Leistung lohnt sich - irgendwann ...

Kinder und Jugendliche glauben an das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem - trotz aller Widersprüche

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Der anhaltende Protest gegen die Reformpläne der Bundesregierung deutet in trauter Gemeinschaft mit dem erkennbaren Unmut über die Alternativvorschläge der Opposition darauf hin, dass der Glaube an soziale Gerechtigkeit in Deutschland nicht besonders tief verwurzelt ist. Aber wenn schon Erwachsene Schwierigkeiten haben, der Chancengleichheit, der Verteilungsgerechtigkeit und den Selbstheilungskräften des Kapitalismus zu trauen, wie schwer muss es dann erst für Kinder und Jugendliche sein, mit der Erkenntnis einer offensichtlichen Schieflage zurechtzukommen?

Dieser Frage widmete sich der Erziehungswissenschaftler Rainer Watermann vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Im Rahmen seiner Dissertation über Gesellschaftsbilder im Jugendalter untersuchte er die persönlichen Überzeugungen, Wertvorstellungen, politischen Interessen und den Bildungsstand von Kindern und Jugendlichen ab dem 7. Schuljahr. Watermanns Arbeit basiert auf der seit 12 Jahren laufenden Längsschnittstudie "Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter" (BIJU), für die - durch Befragungen und Leistungstests - Daten von etwa 16.000 Schülerinnen und Schülern gesammelt wurden. Im Gespräch mit Telepolis fasst der Max-Planck-Forscher einige Ergebnisse zusammen:

Heranwachsende haben zumeist noch sehr einfache Vorstellungen davon, wie man erfolgreich sein kann. Sie glauben fest daran, dass diese Gesellschaft persönliche Anstrengungen, Fleiß, Ausdauer und Eigeninitiative oder auch die Investitionen in Ausbildungswege irgendwann belohnt.

Im Laufe der Jahre wird diese vertrauensvolle Einschätzung allerdings einer kritischen Überprüfung unterzogen. Mit der Reflexionsfähigkeit, dem kommunikativen Umfeld und den medialen Informationsquellen wachsen auch die Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Gesellschaftsbildes:

Der Übergang in die berufliche Erstausbildung spielt jetzt eine entscheidende Rolle. Wenn die ersten Misserfolge auftreten - etwa bei der Suche nach einer geeigneten Lehrstelle - neigen Jugendliche dazu, auch andere Faktoren für den sozialen und beruflichen Erfolg beziehungsweise Misserfolg verantwortlich zu machen. Sie denken darüber nach, inwiefern ihr Elternhaus, gute Beziehungen oder ganz einfach Glück die aktuelle Situation beeinflussen.

Von der Grundüberzeugung, dass ihre Bemühungen einst belohnt werden, weichen sie in der Regel dennoch nicht ab:

Dass viele Jugendliche trotz negativer Erfahrungen an einem meritokratischen Gesellschaftsbild festhalten, ist psychologisch verhältnismäßig leicht zu erklären. Der grundsätzliche Glaube an das System hilft ihnen, sich zu motivieren und weiterhin berufliche Ziele zu verfolgen. Sie integrieren die Widersprüche in ihr Bild und legitimieren die Ungleichheit unserer Gesellschaft, ohne diese Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen.

So weit würden auch Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nicht gehen, doch ihre Vorstellung von den Voraussetzungen eines erfolgreichen Lebens ist offenbar sehr viel differenzierter als die ihrer Altergenossen, die andere Schulformen besuchen. Die Gymnasiasten neigen schneller dazu, Faktoren in ihre Überlegungen einzubeziehen, die außerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs liegen, und auch beim BIJU-Wissenstest waren sie deutlich erfolgreicher. Watermann begründet diesen Unterschied mit dem "anspruchsvolleren und stärker diskursorientierten Unterricht in den politisch bildenden Fächern" und stellt eine interessante Parallele her:

Auch die ostdeutschen Jugendlichen sind in dieser Hinsicht sehr kritisch veranlagt. Ich möchte sagen: Sie sind besonders wachsam. Das hängt zum einen mit dem sozialen Gefälle zwischen Ost und West zusammen, spiegelt aber auch Verhältnisse aus der alten DDR wieder, in der persönliche Leistungsmerkmale eben nicht zwangsläufig zum Erfolg führten. Ähnliche Befunde lassen sich auch in den anderen postkommunistischen Ländern feststellen. Die Menschen hinterfragen ihr Gesellschaftsbild viel eindringlicher und sind mitunter auch politisch interessierter.

Die persönliche Verantwortung wird so in vielen Fällen entlastet: "Jugendliche entwickeln oft ein detaillierteres Gesellschaftsbild. Die Formel 'Du darfst einfach nicht aufgeben!' gilt aber weiterhin."

Die Ablehnung eigener Verantwortung für missliche Lebenssituationen will Watermann trotzdem noch eingehender untersuchen. Er hält es für wahrscheinlich, dass Jugendliche immer dann, wenn sie Widerstände erleben, bestimmte Zuschreibungsmuster entwickeln, die sich auf vermeintliche oder tatsächliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen beziehen und das Grundgefühl individueller Verantwortlichkeit wenigstens zeitweise überdecken.