"Letztlich geht es um Macht und politische Profilierung"

Der Vize-Präsident des Bundes der Steuerzahler kündigt im Telepolis-Interview den Gang zum Bundesverfassungsgericht an, sollte der ESM im Parlament beschlossen werden

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Er befürchtet Schlimmes: Reiner Holznagel, Vize-Präsident des Bundes der Steuerzahler (BdSt), warnt im Telepolis-Interview vor einer Zustimmung des Bundestages zum so genannten Europäischen Stabilitätsmechanismus, kurz ESM genannt. Die Abstimmung zum ESM, die am Freitag erfolgen soll, ebne den Weg zur Schaffung einer "Mega-Bank", wie es Holznagel formuliert und schließlich zu einer vollständige Aufgabe der Stabilitätskriterien aus dem Maastricht-Vertrag. Aufgrund der schweren Verwerfungen, die den Euro-Länder durch die gegenwärtige Politik drohe, fordert Holznagel von all jenen, denen die Europäische Gemeinschaft wirklich am Herzen liege, sich für weniger, als für mehr Europa einzusetzen.

Allen europäischen Steurzahler aus den Ländern der Euro-Zone, die an einer vernünftigen Wirtschaftspolitik interessiert seien, müssten sich darüber im Klaren sein, dass mit dem ESM eine "massive Veränderung der Spielregeln der europäischen Integration" einhergehe. Holznagel spricht von einer Bedrohung der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. An dem bevorstehenden Abstimmungsverhalten der Abgeordneten, die voraussichtlich in der Mehrzahl für den ESM stimmen werden, lässt Holznagel kein gutes Wort.

Herr Holznagel, in einer Pressemitteilung kritisiert der Bund der Steuerzahler die zu erwartende Zustimmung des Parlaments zur Schaffung einer als Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) bezeichneten internationalen Finanzinstitution, die die europäischen Länder bei Zahlungsschiwerigkeiten unterstützen soll. Warum sind Sie gegen den ESM?

Reiner Holznagel: Mit dem ESM ist eine Mega-Bank geplant. Sie soll einspringen, wenn Staaten keine anderen Kreditgeber mehr finden. Alle Euro-Staaten können dann ESM-Kredite beanspruchen, müssen aber auch kollektiv für die ESM-Verluste haften. Damit werden die wichtigen Stabilitätsregeln von Maastricht vollständig aufgegeben. Damals - und das wird heute häufig vergessen - hat Deutschland der Aufgabe der D-Mark nur zugestimmt, weil diese Regeln aufgestellt wurden. Heute sind sie nichts mehr wert. Das wollen und können wir nicht akzeptieren.

Worin genau sehen Sie die Gefahr des ESM

Reiner Holznagel: Zunächst haftet Deutschland mit 27,1 Prozent für die Verluste im ESM. Damit tragen die deutschen Steuerzahler das größte Risiko. Übrigens gilt das auch für die EZB. Beim ESM kommt allerdings hinzu, dass die Haftungsanteile schwacher Euro-Staaten (z. B. Griechenland mit 2,8 Prozent) eigentlich nur auf dem Papier existieren. Die Konsequenz ist, dass Deutschland auch diese Haftung letztlich übernehmen muss. Im ESM-Vertrag heißt es sinngemäß: Wenn Staaten ihre ESM-Pflichten nicht erfüllen können, ergeht an alle ESM-Mitglieder ein revidierter erhöhter Kapitalabruf. Bei dem bisherigen Haftungsanteil für Deutschland wird es also im Ernstfall nicht bleiben.

Das ist harter Tobak. Warum aber, so sieht es zumindest aus, wird die Mehrzahl der Abgeordneten für den ESM stimmen?

Reiner Holznagel: Die Mehrheit des Parlaments folgt der These Angela Merkels: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Diese These ist falsch und ohne Inhalt, aber sie macht Angst und geißelt die Bundestagsabgeordneten. Zudem scheint die jetzige Rettungspolitik die einfachere Alternative zu sein, denn die meisten Menschen spüren noch nicht die Konsequenzen. Gerade wir Deutschen unterschätzen das Haftungsrisiko. Mit der Fiskalunion und mit dem dauerhaften Rettungsschirm ESM wird die ungezügelte Schuldenpolitik fortgesetzt. Aus unserer Sicht gibt es Alternativen, für die übrigens auch einige Bundestagsabgeordnete werben. Dennoch geht die Masse im Parlament einen anderen Weg. Zudem haben gerade SPD und Bündnis90/Die Grünen erkannt, dass sie mit ihrer Zustimmung zum ESM noch andere politische Maßnahmen raus handeln können. Letztlich geht es um Macht und politische Profilierung

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits klargestellt, dass im Vorfeld des ESM die Bundesregierung ihre Pflicht, umfassend den Bundestag zu informieren, verletzt hat. Wie erklären Sie sich das Verhalten?

Reiner Holznagel: Da die Bundesregierung ihre europäische Krisenpolitik stets als "alternativlos" betrachtet, ist sie offensichtlich weder an einem Dialog mit ihren Bürgern, wissenschaftlichen Instituten oder gar dem Parlament interessiert. Noch hält sie es für notwendig, die Steuerzahler - die am Ende für alles haften - rechtzeitig und umfassend zu informieren. Wozu auch? Die Bundesregierung blendet jeden anderen Ansatz zur Bewältigung der Euro-Krise konsequent aus. Deshalb planen wir gemeinsam mit einem Aktionsbündnis eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen den ESM.

Diskussion über mehr schuldenfinanziertes Wachstum ist fahrlässig

Die Regierung Merkel wird von vielen Seiten attackiert. Ihre Sparpolitik wird als fatal bezeichnet. Dass die griechische Wirtschaft im Zuge der enormen Sparmaßnahmen, die dem Land auferlegt wurden, kaum aus dem Tal kommt, ist jedem klar. Also können radikale Sparmaßnahmen eigentlich nicht die Alternative sein oder?

Reiner Holznagel: Zunächst zu den Fakten: Griechenland hat in den letzten Jahren Milliarden Euros aus Brüssel erhalten. Pro Kopf sind durchschnittlich 2.000 Euro Strukturhilfen nach Griechenland geflossen. Der EU-Durchschnitt liegt bei 800 Euro. Insofern kann ich nicht verstehen, dass noch mehr Geld die Probleme lösen soll. Zumal die Griechen hausgemachte Probleme haben.

Im Jahr 2009 hat das griechische Finanzministerium folgende Daten veröffentlich: 94% der Einkommensteuerpflichtigen deklarieren ein Jahreseinkommen von unter 30.000 Euro. 70% der Selbstständigen deklarieren Einkommen unterhalb des Steuerfreibetrags. Ein Jahreseinkommen von über 200.000 Euro deklarieren lediglich 3.000 Griechen. Die griechische Nationalbank schätzt die daraus resultierenden Einkommensteuerverluste auf bis zu 10 Mrd. € jährlich. Deshalb halte ich die Diskussion über mehr schuldenfinanziertes Wachstum für fahrlässig.

Um die Staatsschuldenkrise in Europa zu überwinden, müssen die Haushalte durchgreifend konsolidiert und Schuldenbremsen in allen europäischen Verfassungen eingeführt werden. Die Schuldenpolitik ist Ursache der Europäischen Staatschuldenkrise. Daher ist ein schmerzhafter Reform- und Konsolidierungsprozess in den Krisenstaaten unumgänglich. Nötig sind hierbei vor allem eine effiziente Ausrichtung der öffentlichen Verwaltung und ein wachstumsorientierter Ordnungsrahmen als bester Wachstumsimpuls für die Wirtschaft und damit Beschäftigung.

Der Bund der Steuerzahler steht für die Interessen der steuerzahlenden deutschen Bevölkerung. Man könnte doch auch sagen, dass, wenn nicht schnell ein passendes Instrument zur Abfederung der schweren fiskalen Verwerfungen innerhalb der europäischen Währungsgemeinschaft gefunden wird, wird es Deutschland, sprich: der deutsche Steuerzahler, auch teuer zu spüren bekommen, vielleicht noch teurer, als es etwa durch den ESM geschehen wird. Wie sehen Sie das?

Reiner Holznagel: Jede Lösung der Staatsschuldenkrise wird für die Steuerzahler teuer. Doch der ESM führt zu dauerhaften und unüberschaubaren Risiken. Ein Schuldenschnitt für Griechenland, die Etablierung eines geordneten Insolvenzverfahrens, ein Austritts- und Ausschlussrecht aus der Euro-Zone sowie eine rechtliche Klarstellung der Nichtbeistandsklausel sind der bessere Weg. Zudem müsste eine unabhängige EZB einen funktionierenden geldpolitischen Ordnungsrahmen garantieren. Flankiert werden diese Maßnahmen durch nationale Schuldenbremsen und solide Haushaltsführungen.

Sollen die wahren Europäer nach weniger Europa rufen?

Die politischen Vorgaben sind aber klar: "Mehr Europa" soll es geben. Mittlerweile wird offen über eine Fiskal- und schliesslich eine politische Union nachgedacht. Diese Schritte könnte man doch positiv bewerten, da Europa so näher zusammenwächst, oder?

Reiner Holznagel: Weder die deutschen noch die anderen europäischen Steuerzahler, die an einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik interessiert sind, können sich mit den ESM wohlfühlen. Denn mit dem ESM geben wir unsere Haushaltssouveränität auf. Dem Steuerzahler drohen noch höhere Steuern und Abgaben, Inflation und eine massive Veränderung der Spielregeln der europäischen Integration. Alle Punkte bedrohen die Erfolgsgeschichte der europäischen Union - insbesondere, wenn die Regierungen der Euro-Staaten ihre Vorstellungen gegen die eigene Bevölkerung durchdrücken. Wir alle sollten uns fragen, ob nicht längst die Zeit gekommen ist, in der die wahren Europäer nach "weniger" anstelle nach "mehr" Europa rufen!

Sollte das Parlament dem ESM zustimmen: Wie wird es weitergehen?

Reiner Holznagel: Sollten Bundestag und Bundesrat den ESM beschließen, werden wir gemeinsam mit der Initiative Mehr Demokratie beim Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen den ESM führen. Denn neben den unüberschaubaren Haftungsrisiken für die deutschen Steuerzahler lehnen wir den ESM aufgrund seiner gravierenden demokratischen Defizite ab. Wir erhoffen uns vom Bundesverfassungsgericht eine Festigung unserer Demokratie und eine Stärkung der Bürgerrechte.