Liebeswahn im Internet

Cyberstalking tangiert Schlüsselbereiche der Internetkultur

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Problemfeld Cyberstalking tangiert etliche Schlüsselbereiche der gegenwärtigen Internetkultur: Zensur, Hackertum, Netzkontrolle, Privatsphäre, Überwachung, etc.. Vielleicht ist die Dehnbarkeit des Begriffes ausschlaggebend dafür, dass Cyberstalking immer noch als junges Phänomen gehandelt wird. Die Begrifflichkeiten, entlang derer das Phänomen verhandelt wird, sind noch reichlich verschwommen. Dabei hat Cyberstalking den Aufstieg des Internet von Anfang an begleitet. Trotzdem werden bekannte Verallgemeinerungen im Zuge des derzeit stattfindenden Revivals wieder aufgerollt: Stalking als "neue Geißel" aus dem Internet. Der jüngst erschienene, auf Tatsachen beruhende Roman "Liebeswahn" könnte der Diskursqualität ein wenig auf die Sprünge helfen.

Aktuelle Reportagen in großen Nachrichtenmagazinen wissen die Trennung zwischen Off- und Online-Stalking kaum zu ziehen. Zu Recht, möchte man meinen. Wie "Liebeswahn" zeigt, sind die Übergänge oft fließend. Die Volkskrankheit der Zukunft kann im beruflichen Alltag oder in der Freizeit beginnen. Wie in einem Psychothriller à la "Blue Steel" belästigen Täter ihre Opfer, sind besessenerweise davon überzeugt, dass eine tiefere emotionale Bindung zwischen ihnen besteht, die das Opfer irrtümlicherweise leugnet, negiert. Schnell kann der Flucht in eine andere Stadt die Verfolgungsjagd im Cyberspace folgen. Geheimgehaltene Telefonnummern und Email-Adressen wollen herausbekommen werden. Die Belästigung kann dann weiter gehen. So schildert Susanne Schumacher den Fall eines weiblichen Stalkers in ihrem Buch als eine Art Kriminalroman durchmischt mit authentischen Dokumenten: Briefe und Emails werden abgedruckt, in denen sich die Täterin zu immer wahnwitzigeren Behauptungen und Beschimpfungen hinreißen lässt. Zitat aus einer Email:

"Du schaffst den Frieden mit mir nicht, also hast du Krieg."

Schumacher lässt es aber dabei nicht bewenden, den Voyerismus des Lesers anzustacheln. Sie gewährt auch Einblick in die Korrespondenz mit dem Anwalt, der im Laufe der Hetzjagd hinzugezogen wurde. Daran wird deutlich, dass - obwohl von Graf bis Gottschalk alle ihre unheimlichen Erlebnisse mit Stalkern gemacht haben - es noch lange keine ausreichenden juristischen Wege und Mittel gibt, diese zu bremsen. Deshalb ist "Liebeswahn" nicht nur ein spannender Tatsachenreport geworden, sondern auch ein durchaus zukunftsweisender Ratgeber für Betroffene.

Ein Internet-Diskussionsforum soll nun sogar den Austausch zwischen "Opfern" und "Tätern" ermöglichen. Knapp einhundert Diskussionbeiträge lassen sich seit dem Launch der Website von vor zwei Wochen verzeichnen. Die in Berlin ansäßige Autorin, die das im Buch geschilderte Psychodrama im engsten Freundeskreis hautnah miterlebte, sich gemeinsam mit ihrer betroffenen Freundin hilfesuchend umtat und dann begann, das Thema publikationsgerecht aufzuarbeiten, greift dabei aktiv ein, nimmt zu den Fragen kompetent, aber auch stets subjektiv Stellung.

Das Phänomen ist "medienspezifisch"

Was bei Schumachers Projekt durchklingt, ist durchaus beunruhigend. Heutzutage kann es allen passieren, nicht nur Prominenten. (siehe dazu auch Wired News: Net Stalker Victims Lobby Senate)

Neue Kommunikationstechnologien werden für die Verbreitung besagter "Krankheit" verantwortlich gemacht. Dabei wird allzu oft der Faktor Anonymität angeführt: Weil man ungesehen ein Chat-Forum betreten kann und dort, ohne seine Identität preiszugeben, Kontakt zu potentiellen"Opfern" aufnehmen kann; weil es die technischen Mittel erlauben, eine Nachricht zu posten - etwa: "Ich heisse Heidi und stehe darauf vergewaltigt zu werden. Bitte komm vorbei!" - mit der man andere kompromittiert und dritte fehlleitet. Ist die zeitgenössische Grossstadt jedoch nicht mindestens genauso anonym? Jedenfalls bietet das Internet dennoch psychologische Bedingungen, die besonders sind und deshalb mit Blick auf Cyberstalking thematisiert werden sollten. Genannt seien nur die mannigfaltigen Symptome wie Internetsucht, Netscapismus, schizoide Netzpsychose oder Webwahn1.

Was die Debatte um Cyberstalking also zwingendermaßen immmer auch liefert, ist neue Munition für eine andere heißumkämpfte Streitfrage: Netzkontrolle. Dass die oft mit Verweis auf Kindesmisshandlungen betriebene Polemik die vielbeschworene Offenheit des Netzes in Frage stellt, muss nicht noch betont werden. Dass es allerdings auch "userfreundliche" Konsequenzen nach sich ziehen kann, wurde letztens bei Telepolis bereits zur Sprache gebracht.