Looking-Glassy

Der Journalist Stephen Glass verkaufte früher Fiktion als Fakten und jetzt Fakten als Fiktion

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In den postmodernen Spiegelfechtereien gilt: eine Wahrheit ist eine Unwahrheit ist eine Wahrheit; da das keinen so recht stört, muss man lernen zu ermessen, wann eine Lüge eine Lüge, wann sie ein funkelndes Juwel und wann sie ein Verbrechen ist.

Das Maß dafür scheint schwer zu finden. So war die Empörung über die gefälschten Hollywood-Interviews im SZ-Magazin nicht deshalb verlogen, weil der Lügner Tom Kummer das Richtige getan hat, sondern weil im journalistischen Brei der diffusen Pseudo-Haltungen und verdrehenden Wortmeldungen Unaufrichtigkeit längst eine der Hauptzutaten geworden ist. Rudolf Maresch schrieb vor drei Jahren in Telepolis:

Schleierhaft bleibt jedoch trotzdem, wie die Verantwortlichen der Zeitung auf den kuriosen Gedanken kommen, dass mit den Fakes, die Tom Kummer in Hollywood ersann, die "Pressefreiheit" missachtet, der "kritische Journalismus" mit Füßen getreten oder sogar die Demokratie gefährdet wurde. Und es bleibt auch das Geheimnis jener Autoren, die diesen Artikel geschrieben oder in Auftrag gegeben haben, an welcher Stelle mit der "Glaubwürdigkeit" und dem "Vertrauen der Leser", nach SZ-Meinung die "Basis aller journalistischen Arbeit", Schindluder getrieben worden sei. Zwischen der Aufdeckung von Schwarzkonten eines Altbundeskanzlers, dem inszenierten Bericht über den angeblichen Verleih eines serbischen Ordens an einen "echt deutschen Schriftsteller", der Überschrift: "Ribbeck tritt zurück" und dem erfolgreichen Fabulieren eines Hollywoodberichterstatters liegt ein weites Feld.Kummer über Kummer

Die Liste der journalistischen Lügenbarone ist lang, darunter, um nur zwei zu nennen Rockguru Nik Cohn, der mit seinem Artikel "Tribal Rites Of The New Saturday Night" den Film "Saturday Night Fever" inspirierte und 20 Jahre später die (stolze?) Erklärung nachlieferte, dass er sich die meisten Figuren nur ausgedacht habe; Washington Post-Reporterin Janet Cooke bekam den Pulitzer Preis für ihre Reportage über einen achtjährigen Heroinsüchtigen; wenige Tage später gab sie den Preis zurück. Ihre Zerknirschung darüber, dass sie so wild drauflos fantasiert hatte - den Jungen gab es gar nicht - dürfte durch den Verkauf der Hollywood-Rechte von "Jimmys World" wieder wettgemacht worden sein.

Through the Looking Glass

Die Geschichte von Stephen Glass, welcher gerade ein neues Kapitel hinzugefügt wird, schillert in allen Farben des postmodernen Regenbogens: 1998 wurde entdeckt, dass Glass in mindestens 27 Artikeln für das hochrenommierte und wirklich sehr lesenwerte Magazin The New Republic böse geschummelt, gefälscht und fabuliert hatte. The Fabulist heißt dann auch sein Buch, das am 12.Mai erscheint und vom Verlag Simon & Schuster an Buchläden ohne Angabe von Titel und Autor ausgeliefert wurde. Verhüllt. Und das solle es auch bleiben. Bis zum ersten Verkaufstag. Das Buch, ein Roman, handelt von einem jungen Journalisten namens Stephen, der in seinen Artikeln lügt, dass sich die Seiten biegen - und keiner merkts. Der Verlag bezeichnet "The Fabulist" als ebenso revolutionär für die Welt der Medien, wie es "Primary Colors" für die der Politik gewesen sei. Die New York Times zitiert daraus:

Als die ersten gefälschten Stories fertig und die Fakten überprüft waren (fact-checked), liebten meine Redakteure sie, mehr noch, sie liebten mich für diese Artikel - ich spürte es.

Ausgedachte Menschen sind interessanter als echte, mag sich Glass gedacht haben, der sich selbst zuerst wahrscheinlich auch nicht besonders interessant fand. Beim fact-checking mit der Redaktion muss er jedoch über sich selbst hinausgewachsen und massenweise selbstgefälschte Faxe, Websites und Anrufbeantworternachrichten von "Informanten" angeschleppt haben. Es ist eine fremde und spiegelverkehrte Welt: Was der Journalist Glass als Fakten deklarierte, war Fiktion, was "The Fabulist" nun als Fiktion deklariert, sind Fakten. Das anstehende Interview bei "60 Minutes" und der im Herbst herauskommende Film "Shattered Glass" werden den Scherbenhaufen noch vergrößern.