Lukaschenkos Rache: Geflüchtete als politisches Druckmittel

Flüchtenden und Migranten droht nicht selten ein Dasein als Schwungmasse in geopolitischen Spielen. Grafik: kalhh auf Pixabay (Public Domain)

Erdogan lässt grüßen: Auch der belorussische Präsident scheint Flüchtlinge und Migranten als Schwungmasse nutzen zu wollen, um der EU Zugeständnisse abzutrotzen

Seit dem 1. Juni dieses Jahres sind mehr als 1.000 Geflüchtete und Migranten über Belarus illegal in die Europäische Union eingereist - Tendenz steigend. Das ist etwa mehr als das Zehnfache des Jahreswertes von 2020. Äußerungen des belorussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko legen nahe, dass es sich hier nicht um einen Zufall oder saisonale Schwankungen handelt, sondern um eine neue Taktik, westlichen Sanktionen zu begegnen.

Nach der Verkündung umfassender Sanktionen durch die Europäische Union gegen Belarus, zuletzt wegen der Umleitung eines RyanAir-Fluges nach Minsk und der Verhaftung des oppositionellen Bloggers Roman Protasewitsch, erklärte Lukaschenko seine Absicht, Flüchtlingen die ungehinderte Durchreise auf ihrem Weg nach Westen zu ermöglichen.

In seiner Erklärung sparte er nicht ohne Häme. "Sie kommen nicht zu uns, sie kommen in das aufgeklärte, warme und gemütliche Europa". Das litauische Innenministerium glaubt, dass zusätzlich von Minsk eine regelrechte Fluchtroute eingerichtet wurde, die sich die dortigen Behörden von den Flüchtenden selbst finanzieren lassen.

"Eindämmungsabkommen" unmöglich

Tatsächlich nahm die Anzahl der Flüchtenden via Belarus im direkten Anschluss erheblich zu, vor allem in das benachbarte Baltikum, wo Anfang Juli an einem Tag der Rekordwert von 130 Ankommenden registiert wurde. Brüssel hat deshalb bereits den EU-Ratspräsidenten Charles Michel nach Litauen entsandt, wo gleich ein nationaler Notstand erklärt wurde. Dort will man auch das Asylverfahren verkürzen, um Migranten schneller ausweisen zu können. Bei den Geflüchteten handelt es sich um Menschen aus den verschiedensten Krisenregionen südlich und östlich von Europa - wie Afghanistan, dem Irak, dem Iran, Libyen, Syrien und verschiedenen afrikanischen Staaten.

Natürlich weiß Lukaschenko, dass die EU daran interessiert ist, die Migrationsbewegungen aus den Armuts- und Krisenregionen in das Gebiet der Union zu stoppen. Häufig treffen die EU-Mitglieder hier auch Abkommen mit Regierenden von Nachbarstaaten - wie etwa dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, wobei weitreichende Zugeständnisse für das Abschneiden von Fluchtwegen nach Europa gemacht werden. Das ist eine Möglichkeit, die mit Lukaschenko nicht mehr besteht, da er - anders als Erdogan - für westliche Staaten zur Unperson geworden ist und von EU-Vertretern nicht als legitimer Staatschef anerkannt wird. Hier setzt die Minsker Rache für diese Nichtanerkennung an: Flüchtlinge werden als politisches Instrument genutzt, wie es der litauische Präsident Nauseda ausdrückt.

Applaus und Bedenken in Russland und Belarus

In Belarus und beim einzigem Verbündeten Russland stößen die aktuellen Aktionen der Regierung Lukaschenko auf ein geteiltes Echo. Konservative Fachleute wie der Politologe Sergej Markow klatschen Lukaschenko für seine Flüchtlings-Revanche mehr oder weniger Beifall und offenbaren dabei auch eigene Stereotype: "Migranten aus allen Regionen der Welt haben begonnen, nach Weißrussland zu eilen. Sie reisen von dort in die EU, um im Deutschland oder Schweden Sozialleistungen zu beziehen" schrieb Markow gemäß der Zeitung Polit Rossija auf seinem Telegram-Kanal.

Bei anderen Kommentatoren, auch in Belarus selbst, gibt es Zweifel, ob Lukaschenko mit seinem offenen Tor für Flüchtlinge mehr als etwas Häme gewinnen kann, etwa Zugeständnisse der EU wie seinerzeit Erdogan. Der frühere Minsker Diplomat Pawel Mazukewitsch meint, dass die Flüchtlingsströme nach Europa via Belarus nicht so umfangreich sein können wie im Fall der Türkei vor einigen Jahren. So würde Lukaschenko die EU mit seiner Aktion kaum wirklich treffen, er könne höchstens das benachbarte Litauen "bestrafen". Hier ist Belarus schon geographisch anders aufgestellt - Flüchtlinge, die die Route über seine Westgrenze in die EU beschreiten wollen, müssen fast zwangsläufig per Flugzeug anreisen, was einen echten Massenexodus im fünf- oder sechsstelligen Umfang pro Monat - der aus der Türkei möglich gewesen wäre - verhindert. In Belarus selbst gibt es kaum Flüchtige aus anderen Staaten.

Litauen hatte im Zuge der Niederschlagung von Oppositionsprotesten in Belarus zahlreiche politische Flüchtlinge aus dem Land selbst freiwillig aufgenommen. Zuvor hatte es sich bei der Aufnahme von Geflüchteten - etwa bei der Flüchtlingskrise 2015 - nicht sonderlich hervorgetan, sondern sich gegen verpflichtende Aufnahmequoten ausgesprochen. 70 Prozent der Litauer waren damals skeptisch gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen aus Nicht-EU-Staaten. Diese Haltung liegt auch in dem vergleichsweise niedrigen Wohlstand im Land begründet - das litauische Durchschnittseinkommen beträgt weniger als die Hälfte des deutschen.

Russische Kritik trifft eher andere Maßnahmen Lukaschenkos

Noch weniger gut kommen in Russland jedoch andere Maßnahmen Lukaschenkos an, die er gleichzeitig mit der Öffnung seiner Westgrenze für Flüchtlinge verkündet hat. So will er den Warenverkehr von der EU nach Russland über sein Staatsgebiet stoppen. Darunter hätte die russische Wirtschaft mehr zu leiden als die europäische, erklärte der Moskauer Ökonom Sergej Alexanschenko gegenüber dem Radiosender Echo Moskwy.

Der größte Verlierer des aktuellen Sanktionskrieges mit der EU ist jedoch Belarus selbst, trotz der neuen Ausrichtung seines Handels ganz auf Russland. "Es ist unwahrscheinlich, dass der Handel mit Russland alle potentiellen Verluste von Belarus ausgleichen kann" meint dazu der russische Geopolitik-Experte Iwan Timofejew vom Russischen Rat für internationale Beziehungen gegenüber der russischsprachigen Ausgabe von Forbes. Auch russische Firmen seien von Sanktionen beim Handel mit Belarus mitbetroffen, was Unternehmen aus Russland davon abhalten könnte, Projekte auf dem weißrussischen Markt zu starten.

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