Lunarer Stein der Weisen

Einschlagserprobter faustgroßer Mondmeteorit hat es faustdick hinter den Ohren

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Seit 1979 sind 30 Meteoriten aufgespürt worden - vornehmlich in Sandwüsten, wo derlei Gestein sich gut vom meist hellen Wüstensand abhebt. Den zweifelsfrei außergewöhnlichsten davon nahm jetzt ein internationales Forscherteam mit einem überraschenden Ergebnis unter die Lupe. Denn der im Januar 2002 in der Wüste des Sultanat Oman aufgelesene Findling hat eine ausgesprochen bewegte Geschichte hinter sich. Bevor er nämlich zum Meteoriten mutierte, wurde er auf dem Mond selbst mehrfach von Meteoriten getroffen. Dank der exakten chemischen Analyse des Steins konnten Forscher erstmals den genauen Herkunftsort eines Mondmeteoriten lokalisieren.

Die Heimat des gefundenen Meteoriten. Bild: Nasa

Aus der Sicht unseres Planeten war es der Supergau schlechthin, die totale Apokalypse. Als vor zirka 4,5 Milliarden Jahren ein mächtiger Himmelskörper in der ungefähren Größe des heutigen Mars die Bahn der damals noch sehr jungen Erde kreuzte, kam es zum finalen Crash, zu einer Kollision mit immensen Ausmaßen. Es war eine Katastrophe, die dazu führte, dass die Erde bis in den Kern aufbrach, große Teile ihrer Oberfläche schmolzen und ebenso große Teile ihres Felsmantels ins All geschleudert wurden.

Für unsere halbfertige Mutter Erde war dies im höchsten Grade ärgerlich, hatte sie sich doch zuvor mühselig über einen Zeitraum von 30 Millionen Jahren aus Gesteinstrümmern und kleinen Meteoriten zusammengeballt, bis eben besagter marsgroßer Himmelskörper schräg auf ihr prallte und dabei gigantische Mengen von Gestein in ihre Umlaufbahn schleuderte. Peu à peu verdichteten sich die außerhalb ihres Orbits rotierenden Trümmerteile: Mutter Erde entließ den Mond aus ihrem Schoss und setzte einen Begleiter in die Welt, der ihr bis auf den heutigen Tag die Treue hielt.

Viermal von kosmischen "Kollegen" getroffen

Um diese Treue stets aufs Neue zu beweisen, schickt der Mann im Mond gerne hin und wieder einen Gesandten zur Erde. Auch wenn die "irdischen" Wissenschaftler bislang nur 30 lunare Abkömmlinge in Gestalt von Meteoriten etc. zu Gesicht bekamen, so gelang es ihnen dennoch, den Botschaftern des Erdtrabanten einige Geheimnisse zu entlocken.

Wie das US-Wissenschaftsmagazin Science in seiner aktuellen Ausgabe (30. Juli 2004, Bd. 305. S. 657-659) berichtet, haben europäische und amerikanische Wissenschaftler jetzt einen "neuen" Meteoriten im Rahmen einer einjährigen Studie analysiert, der zweifelsohne der bislang Spektakulärste im Bunde ist, weil er mit einer im wahrsten Sinne des Wortes sehr bewegten Geschichte aufwarten kann. Denn wie eine geologisch-chemische Studie des Mondmeteoriten ergab, stand besagter Stein während seiner Zeit auf dem Erdsatelliten gleich viermal unter Beschuss. Erst der vierte Impakt katapultierte ihn vom Erdtrabanten ins Weltall.

"Als der Stein das erste Mal getroffen wurde, wurde dieser nicht in den Weltraum geschleudert, sondern auf der Oberfläche nur von einem auf den anderen Punkt befördert", sagt Edwin Gnos von der Universität Bern (Schweiz), der zusammen mit Bernhard Spettel vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz sowie Kollegen in Stockholm, Tucson (US-Bundesstaat Arizona) und Milton Keynes (Großbritannien) den Stein "sezierte".

Aus dem Auto entdeckt

Nach Auskunft des Forschern wiederholte sich das ganze Spektakel zweimal, bis der Stein beim vierten Mal wohl genug von dem ewigen Hin und Her hatte und sich auf Nimmerwiedersehen vom Mond verabschiedete. Nach einer langen Odyssee - er umkreiste möglicherweise sogar eine Zeitlang um die Sonne - wurde er von der irdischen Schwerkraft eingefangen und stürzte auf die Erde. Infolge der Reibung des vermutlich kantigen Gesteinsbrocken in der Erdatmosphäre wurde der äußere Teil des Gesteins kontinuierlich aufgeschmolzen; dadurch erhielt der kleine Körper seine schicke ovale Meteoritenform.

"Sayh al Uhaymir 169" (SaU 169) - Mondstein der Weisen? Bild: Science

Jedenfalls vergrub sich der Stein im Wüstensand, bis er - aus welchen Gründen auch immer - wieder zum Vorschein kam, um dann zufällig entdeckt zu werden. "Das erste Mal sahen wir den Stein, als wir noch im Auto saßen", so Gnos, der zusammen mit Ali-Al-Kathiri (Universität Bern) und Beta A. Hofmann (Natural History Museeum Bern) den Meteoriten "Sayh al Uhaymir 169" (SaU 169) vor zwei Jahren im Sultanat Oman in der Wüste auf Expedition war. "Wir stiegen aus und schauten ihn an. Er sah völlig ungewöhnlich aus. Wir waren uns zunächst nicht sicher, ob es sich bei diesem um einen Meteoriten oder nicht handelte."

Dass der 70x43x40 Millimeter große und gerade einmal 206 Gramm schwere und faustgroße Findling in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist, beweist auch die Tatsache, dass die Analyse seiner geologisch-chemischen Struktur Rückschlüsse auf seinen "lunaren" Heimatort erlaubt. "Der Meteorit ist deshalb außergewöhnlich, weil wir dank ihm erstmals genau bestimmen können, aus welchen Mondkrater er ursprünglich kam", betont Gnos. "Es gibt keinen anderen Gesteinsbrocken wie diesen, weder unter anderen Mondmeteoriten noch unter den bei den Apollo-Missionen gesammelten Proben."

Kratergenaue Lokalisierung

Aufgrund der einzigartigen und zugleich ungewöhnlichen chemischen Zusammensetzung sei der Ort des Einschlages auf dem Mond, woher der Meteorit stammt, so gut wie sicher. Nicht meter-, dafür aber kratergenau, wie Gnos verdeutlicht. "Einige der chemischen und altersmäßigen Fingerabdrücke des Steins sind dieselben, die wir vom Lalande-Einschlagskrater kennen. Wir wissen nicht genau, was den Stein getroffen hat. Wir denken, dass es Meteoriten gewesen sein könnten, von denen ja bekanntlich viele zwischen Mars und Jupiter treiben."

Wüstenregion, in der SaU 169 gefunden wurde. Bild: Science

Um die Herkunft des Meteoriten eindeutig zu bestimmen, griffen die Geologen auch auf Datenmaterial zurück, das bei der Untersuchung von jenen Mond-Gesteinsproben anfiel, die seinerzeit bei den sechs Apollo-Missionen zusammen getragen wurden. Damals ergaben die Analysen, dass auf dem Mond Spurenelemente von Phosphor waren, obwohl deren Konzentration allerdings von Ort zu Ort stark differierte. Dies galt ebenso für bestimmte radioaktive Elemente wie Thorium und Uran, die auf dem Mond gefunden wurden. Indem die Forscher das Verhältnis besagter und noch anderer radioaktiver Elemente zueinander untersuchten, konnten sie zugleich die vier historischen Einschläge, die der Mini-Brocken durchlebte, datieren.

Da der Anteil des seltenen Schwermetalls Thorium in SaU 169 außergewöhnlich und somit die Radioaktivität recht hoch war, griffen die Forscher zur einer Thorium-Mondkarte, die von 1998 bis 1999 durch die Nasa-Sonde Lunar Prospector erstellt wurde. Der Vergleich ergab, dass der Meteorit aus der Gegend des Mare Imbrium (Regenmeer) stammen müsse, wo Lunar Prospector einst eine ähnlich hohe Strahlung registrierte.

In der Wüste fehlte das Postamt

Aus den vorliegenden Daten konnte die Forscher tatsächlich folgenden zeitlichen Ablauf rekonstruieren: Als vor 3,9 Milliarden Jahren sich der Super-Gau ereignete, entstand das Mare Imbrium. Geschmolzenes Gestein wurde hoch geworfen und verteilte sich über den Erdtrabanten. Sayh al Uhaymir 169 flog dabei mehr als tausend Kilometer weit Richtung Süden und wurde nach dem Aufprall von dem Auswurfmaterial begraben. Allerdings zeigen Reste von Regolith im Stein - das ist jenes weiche sandartige Material, das den Mond einige Meter hoch bedeckt - , dass SaU 169 irgendwie immer an die Oberfläche befördert wurde. Weitere Einschläge folgten, wie etwa vor 2,8 Milliarden und vor 200 Millionen Jahren. Zu guter Letzt landete der Stein in der Nähe des 24 Kilometer großen Kraters Lalande, wo er dann vor 340.000 Jahren von einem kosmischen Meteoriten rausgesprengt, dabei sogleich selbst zum Meteoriten wurde und vor gut 10.000 Jahren auf die Wüste des heutigen Oman niederging.

Übrigens mussten Gnos und seine Kollegen in punkto Namensgebung mit einem kleinen Problem kämpfen, das seltsamerweise postalischer Natur war. "Meteoriten werden für gewöhnlich nach dem nächsten Postamt benannt", so Gnos. "Da aber in der Nähe des Fundortes in der Wüste von Oman kein Postamt war, benannte ein internationaler Wissenschaftsausschuss den Meteoriten nach der Wüstenregion selbst", so Gnos. Daher stehe "Sayh" für "flache Ebene" während "Al Uhaymir" so viel wie "leicht rötlich" bedeute. Dass es im Ganzen "Sayh al Uhaymir 169" laute, sei darauf zurückzuführen, dass der Mondmeteorit zahlenmäßig überhaupt erst der 169. Meteorit ist, der bislang im Oman gefunden wurde.