Mathematik dank Gehirn-Recycling

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Warum nach Rechts zu blicken dieselben Hirnareale beschäftigt wie eine mentale Addition

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Dass der Mensch kein eigenes Organ fürs Rechnen besitzt, hat eine simple Ursache: Die Evolution hatte nicht genug Zeit, uns mit einem für diese Fähigkeit besser als unser Gehirn geeignetes Körperteil zur Verfügung zu stellen. Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass wir in ein paar Millionen Jahren eine Glandula arithmetica besitzen werden. Und zwar nicht, weil unsere Kinder dem Computer das Rechnen überlassen, sondern weil die Evolution längst passenden Ersatz gefunden hat: Sie recycelte dafür einfach ein anderes Gebiet im Gehirn, das sich bereits mit ähnlichen Problemen befasst.

Das ist gar kein so ungewöhnlicher Vorgang: Als wir Lesen gelernt haben, half uns dabei ein Hirnareal, das sich zuvor mit Objekterkennung befasste (und sich dieser Aufgabe parallel auch weiterhin widmet). Die Wissenschaft vermutet sogar, dass die spezifische Form unserer Buchstaben in Beziehung steht zu den neuronalen Strukturen in diesem Gebiet, die sich bei der Erkennung von Szenen herausgebildet und bewährt haben. Sprich: in der Sprachentwicklung haben sich diejenigen Schriftzeichen durchgesetzt, für die unser Gehirn aufgrund seiner Vorerfahrungen besonders empfindlich ist.

Wer chinesische Schriftzeichen entziffern soll, mag das kaum glauben - es geht hier aber um die grundlegenden Strukturen, die Art und Weise, wie Schriftzeichen angelegt sind. Warum ziehen wir überhaupt Linien und Kanten, wo man doch auch zum Beispiel Farbstrukturen sehr schön zur Kommunikation einsetzen könnte?

Vorschulkinder bilden schon einen mentalen Zahlenstrahl

Bei unseren Rechenfertigkeiten verhält es sich offenbar ähnlich. Es lässt sich zwar auch vielen Tierarten und selbst kleinen Menschen-Babys ein Gefühl für Mengen und Raum zuordnen, doch ein Verständnis von Mathematik entsteht dadurch noch nicht. Erwachsene Menschen hingegen besitzen es - selbst, wenn sie anderes von sich behaupten. Die Verbindung zwischen Zahlen- und Raumempfinden, das war der Forschung schon bekannt, spielt dabei eine große Rolle.

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Selbst Vorschulkinder, das zeigen Experimente, bilden schon einen mentalen Zahlenstrahl, der dann prompt in der Schule als Lehrwerkzeug genutzt wird. Sich eine arabische Zahl nur vorzustellen, beeinflusst unsere räumliche Vorstellung - kleine Zahlen lassen uns eher nach links tendieren, große nach rechts - jedenfalls bei Menschen mit einer Leserichtung von links nach rechts. Bei Überschlagsrechnungen schießen wir im Mittel über das Ergebnis hinaus, wenn wir addieren, und wir wählen eine kleinere Näherung, wenn wir subtrahieren.

Ein interessantes Phänomen zeigen auch Patienten, die an Hemineglect leiden - einer Aufmerksamkeitsstörung, die unter anderem nach Hirninfarkten oder bei Alzheimerkranken auftritt. Diese Patienten sehen nur Dinge in einer Raumhälfte - die andere Hälfte ignorieren sie nicht, sondern sie sind tatsächlich nicht in der Lage, sie wahrzunehmen. Wenn solche Patienten ein numerisches Intervall teilen sollen, sind ihre Antworten in Richtung größerer Zahlen verschoben, als könnten sie auch nur die Hälfte des Zahlenraums wahrnehmen.

Genauere Identifikation der mit Mathematik befassten Hirnareale

Ein französisches Forscherteam hat nun versucht, eine genauere Identifikation der mit Mathematik befassten Hirnareale vorzunehmen. In ihrer im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten Arbeit betrachteten die Forscher ein Areal, in dem sich zwei Bereiche überlappen: Ein mit räumlicher Bewegung befasstes Gebiet sowie eines, das sich mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit beschäftigt. Die Idee: das Areal könnte eine ähnliche Funktion bei unseren Rechenfertigkeiten besitzen. Tatsächlich - sonst wäre auch kein Science-Artikel daraus entstanden - ließ sich unter dem funktionellen Magnetresonanz-Tomografen eine derartige Verbindung zeigen.

Demnach produziert ein Blick nach Rechts dieselben Aktivitätsmuster wie eine Addition, während ein Blick nach Links unter dem fMRT nicht von der Subtraktion zu unterscheiden ist. Das galt unabhängig davon, ob die Probanden mit arabischen Ziffern oder mit speziellen Symbolen rechneten. Offenbar, so folgern die Wissenschaftler, ließen sich die für Rechts-Links-Bewegungen zuständigen neuronalen Strukturen evolutionär sehr einfach für die Grundlagen unserer Mathematik nutzen.