Mediale Erregungszustände

… und der Gleichklang der Medien im Synchronstress

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Modernitätsschübe

  • 1971 wird die Autofahrerwelle Bayern 3 gegründet. Die Nachrichten sollen nun vor allem nützlich sein, die Informationen Service und die Sprache alltagsnah. B3 ist die erste öffentlich-rechtliche Neugründung, die vor allem durch Werbung finanziert wird – und markiert einen folgenreichen Bruch. Doch die Hörer mögen das leichte Programm. Rasch folgen hr3 oder SWF3. Sie alle entziehen den werbefreien 1. und 2. Programmen rasch die Hörer.
  • 1975 beginnt das öffentlich-rechtliche Fernsehen seine Einschaltquote zu messen. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, man erhielt schließlich Gebühren. Doch ARD und ZDF wollen bewusst ein neues, ein ökonomisches Geschäftsmodell auch in ihre Strukturen einziehen. Fortan verschenkt man Teile der Sendeinhalte quasi kostenlos – und refinanziert die Ausgaben durch Werbung. Die Quote bestimmt den Preis.
  • 1977 entsteht das Internet, im selben Jahr kommt Apples erster Computer auf den Markt. Der Siegeszug der digitalen Medien beginnt. Mathematik, Algorithmen, Informationstheorie sind seine Grundlangen, Programmierer die Macher. Auch im Internet werden die Inhalte verschleudert, kostenlos.
  • 1978 erscheint die erste Ausgabe der taz. Strukturell folgt die Zeitung einem anderen Geschäftsmodell und ist insofern ein altes Medium: Jedes Exemplar muss gekauft und bezahlt werden. Die taz ist die letzte erfolgreiche Neugründung einer Tageszeitung in Deutschland.
  • Die Zahl der Radio- und TV-Programme aber steigt nach der Einführung des Dualen Systems 1984 rasch. Die öffentlich-rechtlichen Sender konkurrieren nun mit rein werbefinanzierten Privatsendern – und verlieren die Hälfte ihres Publikums. Doch noch kommen sich Presse, Funk und Fernsehen eigentlich nicht ins Gehege. Radio macht Radio, Fernsehen Fernsehen, Zeitung Zeitung.
  • Dieser "Burgfrieden" endet nach der Einführung des World Wide Web 1991. Denn auf der neuen Plattform Computer finden alle Platz. Radio kann Texte anbieten, Presse Filme und Fernsehen Audio. Alle werden Konkurrenten.

Die Lage ist auch heute noch sehr unübersichtlich. Doch eins ist eindeutig: Während sich die Zahl der Medienangebote insgesamt deutlich erhöht hat, ist die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen beschränkt. 456 Minuten täglich werden AV-Medien genutzt. Darüber hinauszukommen ist nicht nur schwer, sondern vermutlich auch wenig sinnvoll.

Programme werden verschenkt

Heute verschenken die meisten neuen Medien ihre Produkte - und refinanzieren sich über Werbung. Dazu aber brauchen sie Hörer, Zuschauer, Nutzer, Statistik, kurz: sie bedürfen der Einschaltquote. Die Quote ist die "Währung" der Medien geworden - und zwar aller Medien. Ob TV-Nachrichten, Talk-Shows, Radioprogramme oder Internetportale: Sie alle konkurrieren um gute Quoten bei großen oder auch bei kleineren Zielgruppen.

"Ich bin ein Anhänger der Quote", sagte kürzlich sogar ZDF-Chefredakteur Peter Frey. Obwohl er das bei seiner Gebührenfinanzierung gar nicht nötig hätte, bekannte sich auch er, Mitglied einer jüngeren Generation, wie selbstverständlich zu dieser Parallelwelt aus Zahlen und Abstraktionen, die vor allem der Refinanzierung dient. Mit Qualität – soviel nur ganz nebenbei – hat Quote so viel zu tun wie Äpfel mit Birnen.

Die Erregung von Aufmerksamkeit

Die allgegenwärtige Messung der Resonanz verändert natürlich auch die Produkte und die Inhalte. Radioprogramme, Fernsehsendungen, Internetangebote müssen möglichst hohe Aufmerksamkeit, d.h. eine möglichst hohe Quote finden. Das verändert aber auch die Angebote.

Aufmerksamkeit wurde schon früher durch Personalisierungen, Skandalisierungen, Emotionalisierungen oder Moralisierungen erzeugt. Bereits vor Jahren hat Peter Sloterdijk Nationen als "Erregungs-Gemeinschaften" beschrieben, die durch "telekommunikativ, zuerst mehr schriftlich, dann mehr audiovisuell erzeugten Synchron-Stress in Form gehalten werden".

Heute ist das Nationale zurückgedrängt. Aber die "Zuspitzungen" scheinen zugenommen zu haben und den Charakter von Tsunamis mit Nachbeben angenommen zu haben. Ob positive oder negative Bezugnahme: Wenn es um Joachim Gauck oder Guido Westerwelle, um Freiherr zu Guttenberg oder Thilo Sarrazin, um Japan oder Atomkraft, Griechenland, Irland oder den Euro geht, dann haben – wie von unsichtbarer Hand geleitet – alle Medien dieses eine Thema. Bis dann der nächste, medienübergreifende Aufreger kommt. Es scheint, als gebe es den Matthäus-Effekt auch bei Themen.

Man muss sich nur die Talkshow anschauen. Das Fernsehgespräch von einst kultiviert inzwischen – showübergreifend – das Nicht-Zuhören-Wollen und das Nicht-Aussprechen-Lassen. Schon das Etwas-Sagen-Können wird zum Kampf – und das erregt natürlich nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Beobachtenden.

Der Talk scheint zu einem Motor von Emotionalisierungen und Moralisierungen geworden zu sein. Man schaue sich nur einige Themen von Anne Will an: "Sarrazin weg - Integrationsproblem gelöst?", "Störfall FDP. Westerwelle weg, Problem gelöst?", "Doktor Guttenberg – Alles nur geklaut?" oder "Der 'Selbstverteidigungsminister' – Bröckelt der Guttenberg-Mythos?. Und dann folgt die Aufarbeitung in den digitalen Leitmedien SpOn, Sueddeutsche.de oder FAZNet. Oder auch die Kollegen der anderen Shows adaptieren die erfolgreichen Themen. Was Quote hat, ist wichtig. Auch hier so ein Matthäus-Effekt. Mancherorts freilich werden solche Auseinandersetzungen schon durch den Abdruck von Hitlisten und Einschaltquotenlisten ersetzt.

Wie stark Digitalisierung und Quote diese Talkshows verändert haben, wird aber erst wirklich an ihrer Ästhetik deutlich. Einspielfilme takten die Sendungen, erzeugen Erregung, wo sie das Gespräch nicht mehr hergibt, und spitzen - genau geplant – wieder zu. Vielleicht kann man sogar von Scripted Talk mit politischen Absichten sprechen. Und von einer Text-Ästhetik-Schere.

Auch die Ästhetik der politischen Magazine, der Dokumentationen und sogar der Nachrichten hat sich durch Quote und Digitalisierung radikal verändert. Fast alle setzen verstärkt auf Bild, Ton, und vor allem Geräusche und Musik. Kaum eine Sendung kommt mehr ohne akustische Signale aus, ohne Pauken und Gefiepe. Die Dramatik kommt hier aus der Gestaltung. Als das ZDF am 14. März in seinem "heute journal" einfach Katastrophenbilder aus Japan aneinander schnitt und kommentarlos, aber mit der Musik von Massive Attack unterlegt ausstrahlte, da erlebte man keinen misslungenen Mix, sondern Zukunft.

Nebenbei: Allein die üblich werdenden riesigen hochauflösenden digitalen Flachbildschirme mit DolbySurround und anderen Extras verstärken diese Effekte natürlich nochmals, schon rein technisch.

Themenkonzentrationen

Wie sich selbst die Themen der Nachrichten aus der Hochpolitik verlagern und in den vorpolitischen Bereich der Überschwemmungen, Erdbeben oder Grippeängste verlagern, das kann man sehr schön an den Top-Ten-Listen nachvollziehen, die das Kölner Institut für empirische Medienforschung (IFEM) in seinem "InfoMonitor" anbietet.

Im September 2010 erreichte Thilo Sarrazin Platz 3 in den Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, Sat1 und RTL, als Thema und als Politiker. 47 Minuten Hauptnachrichtenzeit galten ihm und den Diskussionen um sein Buch. Im Oktober 2010 hatten insgesamt 123 Nachrichtenminuten Stuttgart 21 zum Thema und verhalfen ihm (einmalig) zum 1. Platz. Nichts war wichtiger. Allein Heiner Geißler kam im Oktober auf 65 Nachrichten"auftritte", mit 12 Auftritten wurde er auch der meisteingeladene Talkshowgast 2010 bei ARD und ZDF. Und im Dezember 2010 wurde Wikileaks - es ging um Geheimnisse und auch um Sex - mit 50 Minuten Dritter. Aber auch das sind natürlich nur Zahlen, sie sagen nichts über den "Sound", die Dramatik dahinter.

Woher kommt der Gleichklang?

Es ist auffällig, dass all die Aufregungen und Erregungen wie dezent synchronisiert wirken. Wenn etwa Sarrazin, dann überall Sarrazin. Wenn schon Schweinegrippe, dann aber auch richtig. Oder Wikileaks oder Stuttgart 21. Doch was sind die Ursachen für diese thematischen Gleichklänge, für diesen Synchronstress? Vielleicht kann man drei benennen:

  1. Die Konkurrenz um Quote hat die Beobachtung der Konkurrenz verstärkt. Journalisten beobachten Journalisten beim Beobachten - und reagieren dann im Programm. Was erfolgreich ist, ist wichtig und wird übernommen. Inwieweit sich dahinter auch gesellschaftliche Veränderungen verbergen, ist noch weitgehend ungeklärt. Stichworte könnten etwa die Angleichung der Parteien, die Orientierung der Medien an der gesellschaftlichen Mitte oder auch Milieuverfestigungen im Journalismus sein.
  2. Die Organisationsstrukturen der Sender und der Zeitungen haben sich seit 2000 radikal verändert, Radio, Fernsehen, Internet werden nicht mehr getrennt "geführt". In den neuen bi- oder trimedialen Newsrooms werden Themen frühzeitig ermittelt, abgestimmt - und dann für verschiedene Medien, aufbereitet. Zugleich werden Produktionen stärker mehrfach genutzt. Im ARD-Hörfunkbereich etwa sollen 40 bis 50 Prozent der aktuellen Sendungen aus dem Programmaustausch stammen.
  3. Schließlich übernehmen Computerprogramme zunehmend die Auswahl des Wichtigsten. Bei Google oder Google-News etwa bestimmen längst Algorithmen darüber, was wichtig ist und was nicht. Facebook soll gezielt steuern, welche Beiträge welcher Nutzer überhaupt sehen kann – auch so werden Wahrnehmungen und Stimmungen durch Software "geleitet". Und die Welt von WikiLeaks und Co. ist eigentlich nur durch Software möglich geworden.

Welch medienjournalistische und medienwissenschaftliche Arbeitsfelder!

Dem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, der zur Einführung auf dem Medienseminar "Erregungszustände. Neue Medien, neue Politik, neue Publika" der Bundeszentrale für politische Bildung gehalten am 9. und 10. Mai 2011 in Berlin gehalten wurde.