Medien: Das große Versagen in und nach der Corona-Krise

Boulevardtitel, aufgenommen in Paris, Anfang November 2021. Bild: Hadrian, Shutterstock.com

Politiker räumen zaghaft Fehler während der Corona-Krise ein. Medien halten sich zurück, manche wollen nur ein Jammervolk erkennen. Wo bleibt ihr Mut? Ein Kommentar.

Angesichts des sonst geringen journalistischen Interesses an einer Aufarbeitung der Corona-Politik haben in den letzten Tagen erstaunlich viele Medien eine Geschichte des Spiegels aufgegriffen. Von der ARD-Tagesschau bis zur Zeit wurde kolportiert, Politiker hätten Fehler eingestanden.

Harmlose Medien-Statements zur Pandemie

Erstaunlich ist dies, weil der Spiegel keine investigative Enthüllung präsentiert, sondern schlicht von sieben Personen Rückschau-Statements gesammelt hat. Die redaktionelle An- und Abmoderation trägt wenig zur Einordnung bei.

Was der Spiegel gemacht hat, hätte jedes Medium jederzeit auch mit geringer eigener Kraft geschafft, wie es einige Zeitungen und Sender auch längst gezeigt haben.

In der 20-Uhr-Tagesschau am 8. März war es der dritte Beitrag, dessen Filmbericht von Alexander Budweg und Stefan Troendle Sprecherin Susanne Daubner so einleitete:

Nächtliche Ausgangssperren, Schulschließungen oder - wie hier [Foto im Hintergrund] - gesperrte Spielplätze: In der Corona-Pandemie wurden Entscheidungen getroffen, mit denen vorher niemand gerechnet hatte.

Politiker, die damals mitentschieden haben, schauen inzwischen kritisch auf diese Zeit. Im Magazin Spiegel räumen Ex-Innenminister Seehofer oder auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach jetzt Fehler ein. So sei der Umgang mit Kindern und Jugendlichen zum Teil zu streng gewesen.

Tagesschau

Zu Beginn des Filmbeitrags sagt eine Schülerin:

"Es war sehr schlimm für mich, dass ich meine Freunde nicht sehen konnte." Aus dem Off wird nüchtern festgestellt: "Gemeinsam spielen, Sport machen - alles verboten. Stattdessen Kontaktsperre."

Corona und die Politik: Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen

Es folgen ein kurzes Statement des Medizinethikers Giovanni Maio, ein Zitat des ehemaligen Kanzleramtsministers Helge Braun (CDU) aus dem Spiegel, die Forderung der FDP nach einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung, vorgetragen von Andrew Ullmann, ein indirektes Zitat aus dem Spiegel von Karl Lauterbach (SPD), der einer Enquete-Kommission offen gegenüberstehe, sowie die Ablehnung einer solchen durch die Grünen, vorgetragen vom Abgeordneten Janosch Dahmen.

Der Beitrag endet mit den Worten:

Die Corona-Pandemie ist vorbei. [Die Schülerin] geht wieder normal zur Schule. Politisch aufgearbeitet ist vieles aber noch nicht. Tagesschau

Medienkritik: Versäumnisse während der Corona-Krise

Mit dem Fokus auf eine anstehende Aufarbeitung im Bundestag – oder auch auf laufende wie im Landtag Brandenburg – setzen zahlreiche Medien allerdings fort, was ihnen an eigenem Versäumnis während der Pandemie vorgeworfen wurde: zu sehr nur wiederzugeben, was parteipolitische Akteure fordern oder kommentieren, anstatt selbst Sachverhalte zu recherchieren und der Gesellschaft eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen.

Die sieben Rückblicke auf die Corona-Zeit im Spiegel kommen von den Politikern Karl Lauterbach (SPD, zu Beginn der Pandemie normaler Abgeordneter und nicht einmal Mitglied des Gesundheitsausschusses), Helge Braun (CDU), Horst Seehofer (CSU, bis 2021 Bundesinnenminister) und Irene Mihalic (Grüne).

Ferner von Stefan Huster (Rechts-Professor in Bochum, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Evaluation der Pandemiemaßnahmen), Heinz Bude (emeritierter Professor für Soziologie und Mitautor des Strategiepapiers "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen") und vom Schauspieler Jan Josef Liefers (während Corona medial relevant geworden durch seine Beteiligung an der Aktion "#allesdichtmachen").

Die Suche nach Vielfalt in der Corona-Berichterstattung

Die Vielfalt an Perspektiven auf das Pandemie-Management kann von diesen sieben Personen kaum abgebildet werden, zumal sie bis auf Liefers alle in das politische Geschehen involviert waren.

Und selbst diese sieben Positionen werden nicht durch weitere Recherchen miteinander verknüpft.

Im Eingangstext der Autoren Milena Hassenkamp, Martin Knobbe und Janko Tietz heißt es:

Kaum ein Thema hat in den vergangenen Jahren die Menschen so sehr gegeneinander aufgebracht wie die Coronapolitik während der Pandemie. In gewissen Gruppen, bei den sogenannten Querdenkern oder der AfD, wirkte ihre Spaltkraft wie ein Motor für zunehmende Angriffe gegenüber gewissen Politikerinnen und Politikern, gewissen Wissenschaftlern, gewissen Medien, für zunehmende Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Spiegel 11/2024

Genau diese Skepsis äußert jedoch kurz darauf der offenbar nicht den Querdenkern zugerechnete Professor Stefan Huster. Im Beitrag heißt es:

Als größtes Versäumnis aber sieht er den Ausfall der parlamentarischen Kontrolle. Die Entscheidungshoheit habe beim Kanzleramt, den Ministerien und der Ministerpräsidentenkonferenz gelegen, die Parlamente in Bund und Ländern hätten sich aus der Verantwortung gezogen. Huster hat ein Wort dafür: "Parlamentsversagen".

Spiegel

Medien und ihre Rolle in der Corona-Krise

Müsste nicht jeder Demokrat "Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie" haben, wenn in einer großen Krise mit inzwischen allseits zur Kenntnis genommenen Kollateralschäden ein "Parlamentsversagen" vorlag?

Und wäre dann nicht von den Medien selbst auch ihre eigene Rolle kritisch zu beleuchten? Schließlich ist es ihre Aufgabe, Meinungsvielfalt und Kritik öffentlich zu machen.

Einer ergebnisoffenen Recherche hätte hier kaum entgehen können, dass das "Spaltvirus" nicht nur zwischen Regierungsfreunden und Querdenker genannten Kritikern geschieden hat, sondern die Kritik selbst sehr vielfältig und in den Extremen völlig konträr war.

Keineswegs bloß die Gegner von Freiheitseinschränkungen sind bis heute vor allem in den sozialen Medien aktiv, sondern auch das im Spiegel so bezeichnete "Team Vorsicht", aus dem heraus immer noch Maskenpflichten oder Luftfilter in Schulen gefordert werden.

Die Debatte um "offizielle Politik" während der Corona-Pandemie

Im Spiegel heißt es:

Die Pandemie habe "Gegengemeinschaften zur offiziellen Politik" geschaffen, so hat es der Soziologe Matthias Quent einmal formuliert.

Ist eine solche "Gegengemeinschaft" zu bilden nicht der Normalfall dessen, was sich Opposition nennt, und sollten nicht sogar innerhalb der Regierungsparteien "Gegengemeinschaften zur offiziellen Politik" möglich sein?

Haben Parlament und Regierung nicht verschiedene Aufgaben?

"Das nachträgliche Klagen über die Coronamaßnahmen ist Jammern auf höchstem Niveau"

Doch im Journalismus gibt es bisher nicht einmal Einigkeit, wie die Corona-Zeit als Tatsache zu beschreiben ist. Während die Tagesschau von "nächtlichen Ausgangssperren" berichtet, stellt Spiegel-Wissenschaftsredakteur Olaf Stampf fest:

Anders als in Spanien oder Frankreich wurde bei uns niemand in seiner Wohnung eingesperrt. In Deutschland gab es nur einen Lockdown light. Das nachträgliche Klagen über die Coronamaßnahmen ist Jammern auf höchstem Niveau. Soooo deutsch.

Olaf Stampf auf X

Zu Lauterbachs Behauptung einer "nebenwirkungsfreie[n] Impfung" fragt die stellvertretende Chefredakteurin von Correctiv, Anette Dowideit, einen anderen User mehr als drei Jahre nach Start der Impfkampagne:

Woher weißt du, dass Lauterbach hier mit Absicht gelogen hat? Ist nicht wahrscheinlicher, dass er einfach einen Fehler gemacht und sich vergaloppiert hat? Und: War zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass es tatsächlich Nebenwirkungen gab/ gibt?

Anette Dowideit, X

"Komplett sinnfreies Gerede …"

In einem Kommentar zur Spiegel-Geschichte und der plötzlichen und anlasslosen Präsenz der Stichworte Aufarbeitung und Corona-Fehler in "alle[n] Medien" schreibt Welt-Journalist Tim Röhn:

Irgendwelche Leute, die plötzlich medizinische Fachpersonen waren, schoben Plastikstäbchen tief in Nasen, um der vermeintlichen, aber weltweit ziemlich einmaligen Notwendigkeit von Massentests gerecht zu werden. Da waren Polizisten, die sich umarmende Jugendliche jagten. Polizisten, die mit Abstandshölzern durch Demos liefen. Polizisten, die auf Demonstranten einprügelten oder sie vom Fahrrad rissen.

Und überall Masken, selbst für Kinder. Komplett sinnfreies Gerede vom Erreichen einer "Herdenimmunität", wenn sich das Land doch nur genügend impft. Die Behauptung, die Impfung schaffe "sterile Immunität", was immer Unsinn war (verbreitet zum Beispiel von Helge Braun).

Da war die Mär der "nebenwirkungsfreien Impfung" (Lauterbach). Die absurde Argumentation, nur eine Impfpflicht beende die Pandemie (Janosch Dahmen von den Grünen und viele andere).

Tim Röhn

Journalismus und Falschinformationen während der Corona-Pandemie

Die journalistische Aufarbeitung der Jahre 2020 bis 2023 müsste mit der Journalismuskritik beginnen. Wie konnten all die Falschbehauptungen in die Berichterstattung gelangen, wieso unterblieb fast jede Recherche dazu?

Eine Entscheidung kann sich im Nachhinein, gemessen an den behaupteten Zielen, als falsch herausstellen.

Falsche Tatsachenaussagen hingegen waren von Anfang an falsch und wurden es nicht erst durch neue Erkenntnisse oder Erfahrungen. Die Volksweisheit "im Nachhinein ist man immer schlauer" stimmt nur bei Meinungen und Unkenntnis, niemals bei Behauptungen.

Die Grenzen der Wissenschaft in der Corona-Krise

Entsprechend falsch ist die Behauptung des ehemaligen Präsidenten der Universität Hamburg und der FU Berlin, Dieter Lenzen: "Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer vorläufig."

Vorläufige Erkenntnisse sind gar keine. Vorläufig sind Hypothesen, Annahmen, Vermutungen. Und vorläufig können Interpretationen von Tatsachen sein, in der Wissenschaft eben Interpretationen von Forschungsergebnissen.

Sie sind dann aber Meinungen oder Tatsachenvermutungen, aber keine Tatsachen, die es nicht mehr zu hinterfragen gälte.

Corona und die Einschränkung der öffentlichen Debatte

Während der Pandemie wurden von Anfang an Meinungen und Tatsachenvermutungen im Journalismus als Tatsachen ausgegeben (siehe dazu aus Mai 2020: "Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln"). Das hat zur Einengung des Debattenraums und daraus resultierend zu Fehlentscheidungen geführt.

Danach, dass es künftig besser laufen könnte, sieht es angesichts der bisherigen journalistischen Leistungen zur Aufarbeitung der Pandemiejahre nicht aus.

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