Medientheorie als Geisterkunde

Im Interview erläutert Boris Groys seinen Verdacht, dass sich im submedialen Raum doch Substanzielles verberge, und denkt über Aliens sowie das Scheitern von Medientheorie nach

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Im Gespräch mit Thomas Knoefel und anschließend an seinen letzten Essay zur Phänomenologie der Medien (Vgl. Die Medien lügen (nicht)) reflektiert Boris Groys einige seiner zentralen Gedanken, die zwischen Kunst- und Medientheorie angesiedelt sind. Hinter dem hochtrabenden Titel "Politik der Unsterblichkeit" verbirgt sich ein bemerkenswertes Reflexionsniveau zum Funktionsprinzip des kunst- und medientheoretischen Diskurses.

Angekleidet und mit auf der Brust gefalteten Händen sieht die in einem kargen Raum auf einer Art Stationsbett liegende Gestalt aus wie verstorben. Daneben, auf einem kleinen Tisch, einige Papiere und eine Leselampe. An der Wand des kahlen Raumes ebenfalls Blätter, Arbeitsproben vielleicht, eine offene Tür. Dieses Foto auf dem Cover des neuen Büchleins von Boris Groys zeigt den Autor von einer wenig vorteilhaften Seite, wie eine Leiche. Entstanden ist das Foto im Zusammenhang mit einer Installation von Ilya Kabakov, dem russischen Konzeptualisten, der für die hintergründige Ironie seiner Werke bekannt geworden ist. Groys erinnert an Lenin im Mausoleum. Stalin - offene Tür! - wurde inzwischen schon abgeholt.

Das Archiv. Was - und vor allem wer - bleibt? Wird man so, durch Ironisierung einer Inszenierung, unsterblich? Sicherlich nicht, aber die kontextuelle Beschwörung erweckt zumindest Aufmerksamkeit. Man darf diesen Hinweis getrost als Lektüreanweisung nehmen, um sich immer dann, wenn Groys' Aussagen etwas schwer verdaulich scheinen, darauf zu besinnen: Vorsicht, Ironie - aber auch das nur möglicherweise.

Mich interessiert die Orgie nicht

Knoefel: Würden Sie, die Person Groys, sich als ein philosophisches Readymade verstanden wissen?
Groys: Ja, das kann ich sicherlich tun, aber ich fühle mich nicht dazu verpflichtet.

Groys setzt sich mit seinen Ambitionen unverfroren in einen Kontext mit Kierkegaard, Husserl und Wittgenstein. Das sind alles Philosophen der subjektiven Evidenz, die mit ihrem Verhältnis zum kulturellen Umfeld schwer zu kämpfen hatten. Für Groys ist es tatsächlich eine merkwürdige Verwechslung, dass Philosophie irgendwie mit dem Wohl der Allgemeinheit zu tun habe, während sie doch nur eine subjektive Lebensform ist, in der Performanz und Selbstpositionierung zählen.

Philosophie ist eine Lebensform, von Anfang an. Das bedeutet auch, dass Philosophie nicht für alle lehrbar, nicht auf alle übertragbar ist: Sie hat für die Menschen, die die Philosophie nicht als Lebensform betreiben, im Grunde keine Bedeutung. (...) Die Philosophie ist kein objektives wissenschaftliches Wissen, das allen gleich zur Verfügung steht und sich objektiv vermehren lässt.

Eine Lebensform jedoch mit durchaus physiologischen Konsequenzen. Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen entstammt das Bonmot, die Ergebnisse der Philosophie seien nichts weiter als Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen gegen die Grenzen der Sprache geholt hat. Nun, sagt Groys, es ist vielleicht ganz gut, solche Beulen zu haben und ein wenig krank zu sein. Gesundheit ist vergänglich, Krankheit und Plagen kommen immer wieder. Die Wissenschaftler mögen therapeutisch denken und etwas heilen oder verbessern wollen, Philosophen und Künstler hingegen sind so etwas wie Krankheiten, von denen die Menschheit immer wieder geplagt wird. Und das ist gut so. Dafür sind sie, die Theoretiker, in ihren Bezügen auf sich selbst gestellt, in Gesellschaft mit den Toten, die sie - wie die Kultur insgesamt ihr Archiv - nie wirklich loswerden. Der Philosoph orientiert sich nicht am Leben, sondern am Reich der Toten, er hat ägyptische Interessen: der Antrieb zur Philosophie ist Selbsterhaltung im Sinne des Strebens nach Unsterblichkeit im Werk. Also weder Zeitdiagnose noch Kritik an falschen Zuständen?

Selbsterhaltung im symbolischen Raum schafft eine Gesellschaft der Toten - die aber als Gestalten des kulturellen Erbes untot bleiben. Für die eigene Befindlichkeit ist das natürlich nicht gut, was alle nachvollziehen können, die sich schon einmal diesem Wettbewerb gestellt haben. Der Philosoph ist vom Leben abgekapselt, er stellt sich den Toten und liest ein Buch, während das Leben seine Partys abfeiert. "Mich interessiert die Orgie nicht", bekennt Groys, um mit einer gekonnten Volte persönlich zu werden: keine Ausschweifungen, lieber lesen und spazieren gehen, "ich habe eigentlich keine so gute Gesundheit". Na eben - Ich, Philosoph. Die subtile Inszenierung des Coverfotos versteht man spätestens jetzt erst recht.

Wittgenstein im Kino

Aber Groys ist nicht nur Philosoph von eigenen Gnaden, er ist auch Kunsttheoretiker und Kulturkritiker. Das klassische Prinzip - ars longa - vita brevis - kommt auch hier zum Zug, wenn Kunst und Kultur nicht mit Zeitdiagnose oder Kritik, sondern mit dem Streben nach Unsterblichkeit zu tun haben. Groys expliziert recht lakonisch seine Thesen über das Neue und das Archiv, über Russland und über die Medien, ohne ihnen wesentliches hinzuzufügen.

Wieder tritt die interessante These zur Logik des Archivs, aus der es kein Entrinnen gibt, im Gespräch deutlich hervor. In seinem Essay zur Phänomenologie der Medien hat Groys herausgearbeitet, dass alle medialen Zeichen mit zunehmender Tendenz auf das Medium selbst und nicht auf eine außermediale Wirklichkeit verweisen. In den Massenmedien wird die Ebene der verbalen Kommunikation dabei auf doppelte Weise unterlaufen: einerseits gibt es immer mehr Trash und sogenannte Unterhaltung, weil die Medien nichts Wirklicheres als sich selbst zu vermitteln und zu vermarkten haben. Andererseits werden wie selbstverständlich submediale Formen der Kommunikation gepflegt, denn wo keine gemeinsame Sprache zu finden ist, kann man immer noch schießen oder Explosives hochgehen lassen. Pulp fiction lässt grüßen. Wenn der Sprachkritiker Wittgenstein ins Kino ging, was er gern tat, dann begeisterte er sich nicht ohne Grund am meisten für die Westernfilme.

Metaphysik der Medien

Auch der Medientheoretiker ist ein Teil der Medienkultur: "Die Medientheoretiker selbst sind schon zu einem Teil der Massenkultur geworden." Ein notwendiger Bestandteil sozusagen, aber doch nicht notwendig im Hinblick auf Massenkultur, wie Groys es behauptet: Harald Schmidt hat wohl mehr Erfolg im Fernsehen als ein Philosoph, auch wenn sich dieser zum "Fragment der medialen Oberfläche" macht wie derzeit Sloterdijk.

Groys sieht sich als Verkünder des medienontologischen Verdachts in einer Welt, die sich längst an die vermeintliche Wahrheit der medialen Oberfläche gewöhnt hat. Das hat offenbarungstheologische Qualitäten: ich sage euch, da gibt's noch was. Dieser submediale Raum ist zwar unzugänglich, durch den ausgesprochenen Verdacht aber existent. So wie der künstlerische Avantgardist die Leinwand durchscheinen lässt, die das Bild trägt, wird der Metaphysiker heute zum Medientheoretiker. Statt nun von Politik und Ökonomie zu sprechen oder von der realen Verfassung der medialen Netze, driftet Groys hier jedoch ins Spiritistisch-Metaphorische ab und spricht von Dämonen und von Aliens, die das Submediale bevölkern. Darunter macht er es nicht, das wäre wohl allzu banale Medientheorie oder gar Ideologiekritik.

Man beginnt irgendwann zu vermuten, dass hinter der unauffälligen Oberfläche gut vertrauter Menschen und Dinge sich Aliens verbergen, die eine andere Botschaft haben als diese Menschen und Dinge selbst. Und man möchte dieser Frage nachgehen und die Situation genauer untersuchen. Doch es zeigt sich bald, dass das Alien viel weniger Zeit benötigt, um einen solchen forschenden Betrachter umzubringen, als dieser braucht, um seine Forschung abzuschließen.

Medienforschung ohne Chance

Es ist schon fatal: Priester, Philosophen und Künstler werden abgelöst vom profanen Forscher, der mit technologisch gestützten Methoden ins Innere der Dinge vordringt. In der wissenschaftlichen Welt gibt es keine Kontemplation mehr. Da Medien aber laut Groys gar nicht erforschbar sind, weil sie als Forschungsgegenstand ihren medialen Status verlieren, schlägt er eine Rückkehr zur philosophischen Kontemplation vor. Früher hieß das traditionelle Theorie und bildete gemeinsam mit dem Versprechen, dabei etwas Besonderes zu entbergen, die erfolgreiche philosophische Positionierungsstrategie Heideggers. Nicht zufällig hat dieser Philosoph jüngst wieder Konjunktur, und nicht zufällig begibt sich Groys in dieses Fahrwasser.

Dennoch lässt sich gerade daraus etwas lernen. Einerseits tritt der technologische Determinismus etwa der deutschen Medientheorie recht deutlich als Bastard aus Metaphysik und Marxismus zugleich hervor. Andererseits demonstriert Groys - ihn interessiert nicht das Werk, sondern die Art, wie es zustande kommt: nicht die Leistungen der Spieler, sondern ihre Strategien und die Beschreibungen ihres Feldes -, dass es durchaus elegante Fortschreibungen der These McLuhans gibt, dass das Medium bereits die Botschaft ist. Schließlich gibt es da aber noch Groys, den Ironiker: und der weiß Eines mit Sicherheit, nämlich dass auch das Scheitern recht erfolgreich sein kann.

Boris Groys: Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoefel. Edition Akzente, Hanser Verlag, 208 Seiten, EUR 15,90