Mehr Einfluss, weniger Partei?

Europas Politikszene ist in Bewegung geraten. Die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien und die Möglichkeiten des Internet führen zu immer mehr angedachten und tatsächlichen Partei-Neugründungen

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Nachdem in Deutschland noch überlegt wird, ob die SPD mit einer neuen Partei links überholt und damit für ihre Politik abgestraft werden kann (Droht der Sozialdemokratischen Partei eine Spaltung?), ist genau dieses Horrorszenario der deutschen Sozialdemokratie in Polen schon eingetreten. Nach der Spaltung der regierenden Demokratischen Linksallianz (SLD) und der Neugründung einer polnischen sozialdemokratischen Partei (SDLP) kündigte Ministerpräsident Leszek Miller seinen Rücktritt einen Tag nach dem Beitritt Polens zur EU am 01. Mai 2004 an. Aber dies sind nicht die einzigen Veränderungen für Europas etablierte Parteien.

Auch in dem nicht gerade als europa-euphorisch bekanntem Großbritannien verändert sich die Parteienlandschaft. Im Hinblick auf die vom 10.-13. Juni 2004 stattfindenden Europa-Wahlen hat sich eine Partei-Initiative gegründet, deren zentrales Merkmal der Einsatz des Internet, und die damit verbundenen direkten Einflussmöglichkeiten der "Parteimitglieder" ist. Obwohl alle diese Neuerungen das gemeinsame Credo haben, politische Entscheidungen wieder näher an den tatsächlichen Willen der Bevölkerung zu bringen, kommt die potenziell konsequenteste aus der ältesten Demokratie der Welt und nennt sich Your Party.

Abstimmen statt Talkshow: It's "Your Party"

Auf Initiative des New Economy-Unternehmers Dan Thompson ist im März 2004 eine Partei neuen Typus aus der Taufe gehoben worden. Die Überlegungen Thompsons, welcher von einer Gruppe von ehemaligen Mitarbeitern unterstützt wird, sind einfach: Wenn Abstimmungen bei Fernsehformaten wie "Pop Idol" im Verhältnis mehr Wähler an die SMS- und Online-Urnen ziehen, als politische Wahlen Bürgerbeteiligung haben, dann muss es reelle Chancen und vielleicht auch Notwendigkeiten für eine Partei mit direkt-partizipativen Elementen geben.

Das erste Ziel nach der Gründung von "Your Party" ist die Aufstellung von Kandidaten zur Europa-Wahl. Bislang haben sich schon mehr als 500 potentielle Bewerber gemeldet. Diejenigen, die tatsächlich zum Zuge kommen, sollen durch "Briefings" und Trainingsmaßnahmen die erforderlichen Kompetenzen erwerben, um auch ohne Parteiapparat und Berater Handlungsfähigkeit zu erhalten. Die Möglichkeit über politische Inhalte durch das Internet mitzuentscheiden, ist aber das eigentlich revolutionäre.

Your Party is what its members make it. The initiators are of varied political and non-political backgrounds, and do not have a collective view, except that we want to try a non-adversarial approach to politics, in which all decisions are made by all who want to participate, on an equal level.

Dabei soll das Internet bei "Your Party" eine völlig andere Rolle als bei den traditionellen Parteien spielen. Zwar ist sein Einfluss auch dort unwiderlegbar zunehmend, aber eben immer noch ein eher peripherer. Wenn man einmal von dem fast revolutionären Einsatz des neuesten aller Medien durch Howard Dean im US-Vorwahlkampf absieht (Deans Kampagne als Erfolg?), ist das Internet bisher vor allem Wahlkampfinstrument und Informationsportal geblieben, letzteres hauptsächlich für interessierte Parteimitglieder.

"Your Party" als Partei-Modell der Zukunft?

Zum Nachteil für die Kandidaten von "Your Party" könnten im Moment noch die uneinheitlichen Wahlmodi der jeweiligen Mitgliedsländer der EU werden. In Großbritannien gilt nämlich, im Gegensatz zu den anderen derzeitigen EU-Ländern, das Mehrheitswahlrecht bei der Europawahl. Die etablierten Parteien haben dabei einen Vorteil, sind sie doch seit langem bekannt und ihre Wählerklientel trotz zunehmendem Wechselwählerpotential mit ihnen seit langem verhaftet.

Der Beginn einer fundamentalen Änderung könnte sich aber mit der wahrscheinlichen Verabschiedung einer Europäischen Verfassung abzeichnen, weil darin eine europaweit einheitliche Wahlregelung angestrebt wird. Demnach werden ab 2009 (eine EU-Legislaturperiode dauert 5 Jahre) möglicherweise europäische Kandidaten von europäischen Parteien um Stimmen in ganz Europa werben, was offensichtlich für eine "grenzenlose" Partei auf der Basis des Internet eine gute Voraussetzung wäre.

In Zukunft also "Your Party.de"?

Die Europawahl muss in allen Mitgliedsländern gemäß den demokratischen Grundlagen der Europäischen Union in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl stattfinden, alles Weitere regeln im Moment noch die nationalen Gesetze. Soweit ist die Kompatibilität zur Initiative von "Your Party" auch noch gegeben. Sollte es zu einer europaweit einheitlichen Wahlregelung durch die Europäische Verfassung kommen, ist allerdings zu fragen, was mit der eigentlichen zentralen Neuerung im Your Party-Modell, dem imperativen Mandat, geschieht?

Wollte man "Your Party" als eine neue deutsche Partei etablieren, wäre dies nicht so einfach. Der immer wieder umstrittene Verfassungsgrundsatz des eigentlich nicht "an Weisungen und Aufträge" gebundenen Abgeordneten, man denke nur an die Fraktionsdisziplin bei wichtigen Abstimmungen, steht dem policy-making, also der inhaltlichen Dimension von Politik bei "Your Party", zumindest formell inkompatibel entgegen. Aber das zur Abstimmung stellen der politischen Inhalte bei "Your Party" ist eben der entscheidende Punkt, und eng verbunden mit der Mehrheitsentscheidung über die jeweiligen issues, die dann als Ergebnis der Abstimmungen zur Debatte stehen.

Als Folge der Einsetzung einer europäischen Verfassung und dem gleichzeitigen Erfolg der britischen Partei-Initiative "Your Party" kommen zwei Veränderungen des politischen Systems in Frage: Entweder wird ein europäisches Wahlrecht so ausgestaltet, dass es mit dem freien Mandat kompatibel ist, dann werden zumindest bald europäische Parteien auf unseren Wahlzetteln auftauchen. Oder auf die deutschen Parteien kommen grundlegende Veränderungen zu, die ein imperatives Mandat zulassen, dann wäre das Internet durchaus auch wirklich und vollständig als Werkzeug der Bürgerbeteiligung im politischen System angekommen.

Vielen Bürgern käme das sicher entgegen, ob sich die etablierten Parteien genauso gerne einer direkten Abstimmung über ihre Politik stellen würden, ist anzuzweifeln.