Mehr-Wert durch Dienst-Leistung?

Der Standort Deutschland im globalen Servicemarkt

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Für die Benennung der zukünftigen Gesellschaft gibt es zahlreiche Alternativen: Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, digitale oder vernetzte Gesellschaft - je nach der beabsichtigten Betonung von Schwerpunkten bietet sich eine weite Palette. Hinter all den Begriffen steht letztlich die gemeinsame Auffassung, daß die Industriegesellschaft ihren Zenit überschritten bzw. sich selbst überflüssig gemacht hat und die Produktion von Wert zukünftig weniger durch Hand- oder Industriearbeit, die von Automaten und Maschinen zeit- und kosteneffizienter geleistet wird, als vielmehr durch die Schaffung eines Zusatznutzens geschaffen werden kann. Dienstleistungsgesellschaft ist daher ein weiterer oft bemühter Begriff, um den Wandel in der (Arbeits-) Welt zu beschreiben.

Nachdem das Zauberwort Multimedia bisher die mit ihm verbundenen Hoffnungen auf ein Jobwunder nicht erfüllt hat, besinnen sich Politiker wie Manager nun wieder auf den alles und nichts umfassenden Dienstleistungsbegriff als Waffe im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Dienstleistungen seien der "Schlüssel für Wachstum und Beschäftigung im 21. Jahrhundert", hofft zumindest Bundeskanzler Helmut Kohl für die nach den aktuellen Herbstgutachten der Wirtschaftsexperten auch noch bis weit in das nächste Jahr durch eine akuten Mangel an Erwerbsarbeit geplagte Republik, denn sie eröffneten "Chancen für neue, zukunftssichere Arbeitsplätze." Zählt man dazu alle Tätigkeitsgebiete vom Handel und Finanzsektor über Tourismus und Vermietung bis hin zur Unternehmensberatung oder Altenpflege, war 1996 dem Statistischen Bundesamt zufolge tatsächlich der Dienstleistungssektor zu 65 Prozent an der Bruttowertschöpfung der Gesamtwirtschaft beteiligt. Industrie und Landwirtschaft liegen weit zurück mit 34 bzw. nur einem Prozent.

Grund genug für die jüngste Daimler-Tochter debis (Daimler-Benz InterServices) - dank mehr als 13.000 Mitarbeitern weltweit und über 13 Milliarden Mark Umsatz 1996 einer der größten "Dienstleister" Deutschlands -, angesichts der drängenden sozialen Probleme mit einem "Dienstleistungskongreß" auf den "tiefgreifenden Strukturwandel" und die Potentiale der "globalen Dienstleistungsgesellschaft" hinzuweisen. Denn einerseits sieht der debis-Chef Klaus Mangold "nur im Dienstleistungssektor im Saldo neue Arbeitsplätze entstehen" - bis zum Jahr 2010 könnten dort seiner Auffassung nach rund 1,7 Millionen neue Erwerbsmöglichkeiten angesiedelt werden -, andererseits liege in Deutschland rund um das Leisten von Diensten noch so manches im Argen. Behindert werde die Entwicklung beispielsweise durch einen Mangel an Flexibilität, Selbständigkeit und modernen, praxisorientierten Bildungsformen sowie einer Unterentwicklung vor allem im Bereich "personenbezogener Dienstleistungen". Es "fehlt in Deutschland eine entwickelte Dienstleistungskultur", so der Vorstandsvorsitzende, denn "wir haben Schwierigkeiten, uns bedienen zu lassen" - geschweige denn, anderen als unseren Maschinen zu dienen.

Droht die Dienstleistungswelle und die mit ihr verbundenen Arbeitsmarktpotentiale folglich an Deutschland vorbeizuschwappen?

Tatsächlich scheinen die Deutschen Probleme mit der neuen Arbeitswelt zu haben. Mit den von Kanzler Kohl für den Dienstleistungswettbewerb als "unverzichtbare Tugenden" ausgemachten Werthaltungen wie "Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft und Pünktlichkeit" dürften da noch die wenigsten Berührungsängste bestehen. Schwieriger wird die Situation, wenn man auf den eigentlichen Kern des Wortes Dienen zu sprechen kommt. Denn der ist in wertegewandelten und individualistisch ausgerichteten Gesellschaften wie in Deutschland eindeutig negativ belegt und eng mit dem Begriff der Unterwerfung verbunden. Demut und Dienst am Nächsten - zwei klassische Werte der christlichen Heilslehre - haben in einer aufgeklärten und säkularisierten Lebensumwelt einen faden bis bitteren Beigeschmack und sind mehr oder weniger geächtet. Dienste leisten wird dadurch zu einer Beschäftigung für Dumme oder Heilige, aber nichts für Macher und Manager. Verwunderung ist daher die zwiespältige Haltung gegenüber medienverklärten Figuren wie einer Mutter Teresa, deren Wertvorstellungen dem postmodernen Konsumenten unverständlich bleiben müssen.

Der erwerbswirtschaftlich handelnde Mensch muß sich immer und überall den Bedingungen und Bedürfnissen derer anpassen, die seine Leistungen nachfragen. Hieraus erwachsen Konflikte, die im Zeitablauf unterschiedlich ausgetragen wurden. Sie alle kreisen um die Fragen, wie weit die Anpassungsleistung des Diensteanbieters und die des Dienstenachfragers gehen muß, um zu einem fairen Ausgleich der beiderseitigen Interessen zu gelangen.

Meinhard Miegel

Ein Paradox verschlimmert die Situation: während kaum einer mehr bereit ist, Dienste zu leisten, sind die quantitativen und qualitativen Ansprüche an Dienstleister gleichzeitig gestiegen. Als Konsumenten einer Dienstleistungen sind wir durchaus flexibel und erwarten rund um uns herum den vollen Service. Wer nachts um 12 Uhr ein Restaurant betritt, möchte auch dann noch ein volles Menü geliefert bekommen. Doch sehen wir uns selbst und eventuell gar noch in der Mittagspause in die Rolle des Produzenten einer Dienstleistung gedrückt, beginnen die Schmerzen. "Das Gleichgewicht zwischen Schaffenden und Konsumenten ist gestört und hat einen Sprung bekommen", schlußfolgert Meinhard Miegel, Direktor des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Anpassung oder "lateinisch 'Flexibilisierung der Gesellschaft' sei also dringend von Nöten: "Wir müssen das Trauma überwinden, daß Anpassung die Würde oder die Individualität verletzt." Zudem müßten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen modifiziert, die Selbstentfaltungsbestrebungen des Einzelnen in ein größeres Gemeinschaftswerk eingepaßt werden.

Um den Deutschen die "neue" Erwerbstätigkeit schmackhaft zu machen, erteilt Miegel der Sonderstellung der Dienstleistung zugleich eine Absage. Die "künstliche Dreiteilung von Agrar-, Industrie- und Dienstleistungsbereich" hat seiner Meinung nach ausgedient, denn letztens Endes sei jede Erwerbsarbeit von ihrem Wesen her eine Dienstleistung. Ob Wachmann oder Bergmann - im Endeffekt verkauft jeder seine Arbeitskraft zum Zwecke der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, auch wenn der Einsatz von Maschinen, die Mediatisierung und die Immaterialisierung den Anteil und Charakter einer Dienstleistung verschleiere. Im Falle einer Bedürfnisverschiebung müßten sich die Berufe allerdings an diese Veränderung anpassen und dürften "nicht länger als Panzer zum Schutze von Identität und Individualität dienen, der - einmal angelegt - ein Leben lang getragen wird."

Trotz aller Bemühungen um eine Bewässerung der "Servicewüste Deutschland" (Wirtschaftswoche) bleibt dennoch vielen ein Rätsel, wie die kulturellen Barrieren vieler frühindustrialisierter Länder Europas gegenüber dem Aufbau bzw. der Rückkehr zu einer Dienstleistungsmentalität abgebaut werden sollen. Debis selbst stellt sich zwar als leuchtendes Beispiel dar - nicht nur durch seine Umsatz- und Mitarbeiterzahlen, sondern seit dem 24. Oktober auch ganz real durch den neuen, vom Genueser Stararchitekten Renzo Piano entworfenen Firmensitz in Berlins Mitte, der tagsüber durch seine hellocker gehaltene Terrakotta-Fassade für Akzente im "Einheitsgrau" der Stadt sorgt und nachts dank des neonerhellten grünen Würfellogos auf dem Büroturm sogar noch die Kranlandschaft des Potsdamer Platzes zu überstrahlen vermag.

Doch ob und wann allein die restlichen 340.000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche, die von der debis Immobilienmanagement in der neuen "Dienstleistungscity " rund um das symbolträchtige Bauwerk betreut werden, je ihre Mieter finden werden, ist schon eine ganz andere Frage. Zählen doch vor allem die momentan für den gesamten Sektor noch besonders wichtigen Dienstleistungen für Unternehmen wie Beratungen aller Art, Datenverarbeitung oder das Anbieten von maßgeschneiderten Softwarelösungen zu den sehr mobilen und kaum standortgebundenden Wertschöpfungen.

So konkurriert das debis-Dienstleistungszentrum am Potsdamer Platz schon heute beispielsweise mit dem Forschungszentrum des Mutterkonzernes im südindischen Bangalore. Dort gibt es "sehr renommierte Hochschulen, zahlreiche Developmentcenter, deren Betreiber sich wie ein 'who-is-who' der Unternehmensgeschichte lesen" - und zahlreiche preisgünstige Programmierer, wie Seshu Bhagavathula, der Leiter des Daimler-Benz Research Centre India, zu berichten weiß. "Es ist der Dienstleistungssektor, in dem das Potential für einen globalen Freihandel am größten ist", bestätigt auch Renato Ruggiero, Generaldirektor der World Trade Organization (WTO). Die fast gegen Null sinkenden Kosten für Telekommunikation und Computerleistungen würden die weitere Entwicklung des Internet beflügeln und das Netz in einen idealen und eventuell sogar steuerfreien Marktplatz für Dienstleistungen in einer "grenzenlosen Ökonomie" verwandeln: "Twenty four hours-a-day this global network carries the world's business contracts, currency transactions, medical information, and educationale resources, instantaneously across time zones, borders, and cultures." Eine globale Infrastruktur sieht der Marktliberalisierer hier entstehen, die für Transaktionen jeder Art genutzt werden kann.

Das Finanzsystem, das vom Goldwert befreites Geld verwendet, führt täglich Transaktionen durch, die hundertmal umfassender sind als diejenigen in der sogenannten realen Ökonomie - jener Teil der menschlichen Anstrengungen, wo Güter produziert und Dienstleistungen verkauft werden.

Joel Kurtzmann, The Death of Money

Vor allem die Finanzdienstleister zeigen bereits heute die zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten. In den vielfach abgesicherten Netzwerken der Banken und Börsen im Verbund der SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) werden zwischen mehr als 130 Ländern täglich rund 3 Billionen Dollar bewegt. Allein das Devisenvolumen macht dabei, so debis-Chef Mangold, "das 70fache dessen aus, was zur reinen Abwicklung des Warenhandels benötigt würde."

Die WTO möchte nun auch die Entwicklungsländer durch den Aufbau "elektronischer Brücken" an die freie Weltwirtschaft und Dienstleistungsnetze anschließen und sieht sich nach den Worten Ruggieros dabei im Zusammenspiel mit der Weltbank als "treibende Kraft für eine wachsende Liberalisierung innerhalb eines Rahmenwerkes internationaler Gesetze". Große Hoffnungen legt er dabei auf den sich jährlich verdoppelnden Welthandel - in seinen Worten ein "sehr starker Motor für wirtschaftliches Wachstum" - als Quelle steigenden Wohlstandes für alle Menschen. Kurzfristig rechne er zwar mit den Ängsten nationaler Wirtschaftssysteme und ihrer Arbeitskräfte vor dem "tiefen und rapiden Übergang". Doch wir alle befänden uns nun einmal auf einem Schnellzug, der nicht zu stoppen sei und der von rationalen Denkern auch nur befürwortet sowie beschleunigt werden könne.

There is an artificial, even surreal, quality to the current debate over globalization - a yearning for a past which cannot be recreated and a stubborn refusal to embrace a future which offers so many people so much hope for a better life. The truth is that today - because of the enormous advances of new technologies and trade liberalization - we have the chance of offering to every nation, including the least developped countries, the possibility of equal access to education and information, thus creating the conditions for a society based on equality of opportunity.

Renato Ruggiero, Generaldirektor der World Trade Organization

Langfristig böte die globale Markliberalisierung - wie das Musterland der Vereinigten Staaten mit ihrem momentanen "Upsizing"-Prozeß zeige - nämlich nie gekannte "ökonomische und technologische Chancen, eine bessere Welt zu schaffen."

Tatsächlich sind die USA mit einer Wertleistung von 300 Milliarden Dollar 1995 wie gewohnt Vorreiter beim Export zukunftsträchtiger Dienstleistungen wie etwa im Bereich Softwareherstellung. Deutschland fällt im Vergleich mit 123 Milliarden zurück, und muß seit 1988 zudem mehr Dienstleistungen importieren als es ausführen kann. Im Bereich von Patenten und Lizenzen - einem der wichtigsten Faktoren für eine "Wissensgesellschaft" - exportierten die Erfinder jenseits des Atlantiks 1994 mit 37 Milliarden Dollar sogar doppelt so viele Leistungen in die Welt wie alle EU-Länder zusammen. Vormachen können die Weltmeister im Dienstleisten uns nach Ansicht von Klaus Mangold zudem, "wie tief verwurzelt der Serivcegedanke im gesamten Wirtschaftsprozeß sein muß." Das fängt schon beim Namen an: "Service" klingt einfach schon viel freundlicher als das schwere Dienstleisten. Kein Wunder also, daß Kellner und Bahnschaffner in den Staaten ihre Dienste mit einem Lächeln versehen und nicht mit griesgrämiger Miene.

Selbst die Legende von den McJobs und die Gerüchte von den "hamburger flippers" stimmen nach den Ausführungen des Harvard-Ökonoms Richard Cooper nicht mehr: Das größte Arbeitsplatzwachstum entwickle sich derzeit im Gesundheitswesen und im Einzelhandel. Und das schnellste Wachstum könne die Softwarebranche aufweisen, die in den ersten Planungen der Volkswirtschaftler beim Aufkommen des Begriffes der Dienstleistungsgesellschaft in den 70ern noch gar nicht vorkam. 68 Prozent der neuen Jobs zeichneten sich zudem durch überdurchschnittliche Löhne aus.

Die Europäer und vor allem Deutschland werden nach Meinung der Wirtschaftsexperten also erneut umdenken und sich anpassen müssen, denn Arbeitsplätze gibt es, so Meinhard Miegel, entweder "durch Flexibilisierung - oder gar nicht." Debis sei Dank können beim nächsten Dienstleistungskongreß oder auf dem als Geschenk für die Stadt Berlin anläßlich der Einweihung des neuen Firmensitzes angekündigten "Zukunftskongreß" im kommenden Jahr erneut wieder Meinungen, Rezepte, neoliberalistische Patente und gewerkschaftliche Gegenmaßnahmen für die weitere Entwicklung des Standortes ausgetauscht werden, damit auch hierzulande Innovation, Kreativität und Bereitschaft zum Wandel eine Chance haben.