Mehrheitswahlrecht ohne Wahlkreise

Der Einsatz elektronischer Wahlmaschinen hat potentiell auch Vorteile

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Unlängst erregte der Ex-Verfassungsrichter und Ex-Bundespräsident Roman Herzog mit dem Vorschlag Aufsehen, man solle über eine Änderung der Abgeordnetenfindung in Richtung Mehrheitswahlrecht nachdenken. Der Vorschlag war sicherlich gut gemeint, aber naiv. Ein traditionelles Mehrheitswahlrecht – sei es nach englischem oder nach französischem Vorbild – würde die Rolle des einzelnen Abgeordneten nicht stärken, sondern schwächen – und im Gegenzug den Parteien noch mehr Macht geben.

Das liegt daran, dass ein traditionelles Mehrheitswahlrecht mit Wahlkreisen arbeitet. Diese Methode wird als selbstverständlich hingenommen – dabei spricht nichts dafür, dass dies auch im 21. Jahrhundert noch so sein muss. In Zeiten unzureichender Kommunikationsmöglichkeiten hatte solch ein Wahlkreissystem einige nachvollziehbare Vorteile: Die einzelnen Kandidaten konnten ihre Positionen selten per Massenmedien vermitteln, sondern machten dies in Versammlungen bei denen die potentiellen Wähler persönlich anwesend waren. Ein weiterer Vorteil war, dass es in einem Parlament mit mehreren hundert Abgeordneten und der mehrfachen Zahl von Bewerbern für relativ übersichtliche Wahlzettel sorgte, beziehungsweise die Gefahr von ungültigen Stimmen durch Schreibfehler oder Unleserlichkeit verringerte.

Spätestens seit der völligen Durchdringung der Gesellschaft mit Massenkommunikationsmitteln spricht kein Informationsargument mehr gegen ein Mehrheitswahlrecht ohne Wahlkreise. Und mit der Möglichkeit elektronischer Wahlmaschinen fällt auch das zweite Argument weg. Bisher werden elektronische Wahlmaschinen nur so eingesetzt, dass sie zwar alle Nachteile bringen (Fälschungsanfälligkeit, Gefahren für den Datenschutz durch mögliche Zeitstempel), aber die potentiellen Vorteile nicht ausnutzen. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts ohne Wahlkreise wäre solch ein Vorteil elektronischer Abstimmungsverfahren, der ohne großen Aufwand genutzt werden könnte: Der Wähler würde entweder durch die alphabetisch geordnete Liste scrollen und so das Angebot sichten oder die Anfangsbuchstaben des Namens eingeben, für den er sich entschieden hat. Dann erhält der Wähler eine Auswahl von Namen zum Anklicken, wodurch ungültige Stimmen durch Schreibfehler vermieden werden.

In ihren Wahlkreisen haben die meisten Menschen nur die Wahl zwischen - gelinde gesagt - mediokren Kandidaten. Andererseits reicht das Spektrum in den Parteien so weit, dass sie für immer mehr Menschen gänzlich unwählbar sind: Wer beispielsweise die gesundheitspolitischen Ideen eines Karl Lauterbach gar nicht so schlecht findet, der wird möglicherweise vor dem Wahrheitsbegriff seiner Parteigenossin Brigitte Zypries zurückschrecken. Und wer das Datenschutzverständnis eines Burkhard Hirsch teilt, der kann kaum verantworten, dass einem Ingo Wolf politische Ämter übertragen werden. Sicherlich gibt es auch zahlreiche Menschen, die zwar das Grundrechtsverständnis eines Wolfgang Neskovic schätzen, denen aber eher die Hand abfallen würde, bevor sie jemanden wie Lukrezia Jochimsen wählen. Auch finden die europapolitischen Aktivitäten eines Peter Gauweiler sicherlich die Zustimmung vieler Wähler, die der Auffassung sind, dass sein Unionskollege Elmar Brok eher vor einen Untersuchungsausschuss als in ein Parlament gehört. Nicht zuletzt wird es auch Abstimmungsberechtigte geben, die zwar die Integrität eines Hans-Christian Ströbele schätzen, aber alles unternehmen würden, damit eine Claudia Roth ihre "Emonationalität" höchstens noch in der Bruce Darnell Show auf den Bildschirm bringen darf.

Im derzeitigen Mischsystem bleibt all diesen Menschen nur die Wahlenthaltung. In einem Mehrheitswahlsystem ohne Wahlkreise könnten sie dagegen ihre Stimme nicht nur einen von zwei Hinterbänklern geben, sondern aus mehreren tausend Kandidaten den oder (bei mehreren Stimmen) die auswählen, denen sie am meisten zutrauen. Auf diese Weise wäre auch das Problem gelöst, dass Vertreter von Minderheitenpositionen in einem Wahlkreis-Mehrheitswahlrecht ganz aus der parlamentarischen Vertretung zu verschwinden drohen. Man könnte die Möglichkeiten der elektronischen Abstimmung auch weiter nutzen und nicht nur Abgeordnete, sondern auch Ressorts wählen lassen: Wer eine Sabine Leutheusser-Schnarrenberger potentiell als fähige Justizministerin ansieht, der muss nicht notwendigerweise ihre fiskalpolitischen Vorstellungen teilen – und wer sich Horst Seehofer als Gesundheitsminister wünscht, der fühlt sich vielleicht böse überrascht, wenn der vorher als Fachpolitiker wahrgenommene Abgeordnete plötzlich für Verbraucherschutz oder Familiensachen zuständig sein soll.

Eine andere Möglichkeit des Einsatzes elektronischer Wahlmaschinen wäre, dass Wahlen nicht mehr an feste Termine gebunden sein müssten: Wenn Wahlmaschinen einmal angeschafft wurden, dann können Stimmen jederzeit bei der Gemeindeverwaltung abgegeben werden. Das hätte den Vorteil, dass Abgeordnete unmittelbar für Handlungen bestraft werden könnten – nämlich dann, wenn nach einem Ereignis entsprechend viele Stimmen für andere Kandidaten zusammenkommen und sie wieder aus dem Parlament rutschen. Auch der Entzug einer Stimme wäre denkbar: Wer sich dann beispielsweise nach einer Wahl von Andrea Ypsilanti betrogen fühlt, der hätte die Möglichkeit, ihr seine Stimme wieder zu entziehen, so dass statt ihrer vielleicht ein anderer Kandidat in den Landtag einziehen würde.

Und natürlich würde die Technologie auch einen wesentlich umfassenderen Einsatz von plebiszitären Elementen erlauben, beziehungsweise sogar fordern: Früher waren die Kosten das wichtigste Element gegen direkte Entscheidungen des Volkes. Werden dagegen Wahlmaschinen gekauft, dann ist es geradezu eine Verschwendung, sie jahrelang ungenutzt in Gemeindekellern stehen zu lassen – je öfter sie genutzt werden, desto schneller amortisieren sie sich.