Menschen sind komplizierter als Fadenwürmer

Wie komplex ein Organismus ist, lässt sich kaum an der Zahl seiner Gene ablesen - Forscher schlagen das Interaktom als neuen Maßstab dafür vor

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Was macht einen Organismus wirklich aus? „Es liegt in den Genen“, hieß es lange - nicht zuletzt das Human Genome Project schürte in den 90-ern des vergangenen Jahrhunderts die Hoffnung, mit dem Erbgut des Menschen auch all seine kleinen Wehwehchen zu entschlüsseln, das Funktionieren oder Nichtfunktionieren seines Körpers, nicht zuletzt auch dem Krebs auf die Spur zu kommen und schließlich das ewige Leben zu erreichen.

Mittlerweile zeigt sich die Wissenschaft ernüchtert. Das Genom ist offenbar nicht die Karte zum Jungbrunnen, die man sich erhofft hatte. Und auch über die Komplexität eines Organismus sagt die Abfolge der Basenpaare in der DNS wenig aus: Sonst gehörte der gemeine Kohl mit rund 100.000 Genen zu den kompliziertesten Lebewesen der Erde - der Mensch läge mit 25.000 Genen im Mittelfeld, irgendwo zwischen Fadenwurm (19.000) und Ackerschmalwand (25.500). Das können wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen, deshalb suchen die Forscher längst nach anderen Kriterien, mindestens zum Teil in der Hoffnung, die menschliche Spezies näher an die Krone der Evolution rücken zu können.

Dazu schaute man sich zunächst an, wie viele dieser Gene denn auch tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle in RNS umgeschrieben werden - das so genannte Transkriptom. Das Transkriptom ist weit dynamischer als das Genom; es unterliegt Umwelteinflüssen und hormoneller Regulation und spiegelt dadurch auch den Zustand einer Zelle wieder. Menschen und Schimpansen etwa teilen ihr Genmaterial zu 98,7 Prozent - und unterscheiden sich doch sehr darin, welches Gen zu welchem Zeitpunkt aus dem Gesamtvorrat kopiert wird. Wie dieser Vorgang abläuft, hat sich offenbar im Laufe der Evolution schneller geändert als der Genpool selbst.

Allerdings gibt auch das Transkriptom die Komplexität des Lebens noch nicht wieder. Es ist nämlich möglich, dass aus einer codierenden Gensequenz bei dem Weg über RNS und mRNS ganz verschiedene Eiweiße entstehen - der Effekt ist als Splicing bekannt. Der nächste Schritt nach dem Transkriptom ist deshalb das Proteom - die Gesamtheit aller Proteine in einem Organismus. Wenn schon das Transkriptom von Umwelteinflüssen abhängig ist, gilt dies für das Proteom umso mehr. Doch sagt die Anzahl der insgesamt verfügbaren Eiweiße (beim Menschen etwa eine halbe bis eine Million) schon etwas darüber aus, wie kompliziert ein Organismus aufgebaut ist?

Das berechtigte Argument dagegen: Es geht vielmehr darum, wie diese Einweiße zusammenwirken. Die Gesamtheit der möglichen Protein-Wechselwirkungen nennt die Wissenschaft auch das Interaktom - und hat damit ein neues Schlagwort und einen neuen Hoffnungsträger gefunden. Wie die Proteine zusammen- und gegeneinander arbeiten, das erforschen die Biologen zurzeit eifrig, in der Hoffnung, dass das Verständnis dieser Prozesse auch den Weg zum Verständnis vieler Krankheiten öffnet. Allerdings steht hier die Forschung noch relativ am Anfang, weil es kompliziert ist, mögliche und tatsächliche Kombinationen in Beziehung zu bringen. In einem Artikel in den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften zeigt nun ein europäisches Forscherteam ein Verfahren, mit dem sich die Größe des Interaktoms abschätzen lässt.

Dazu nutzen die Wissenschaftler Methoden der Netzwerk-Statistik. Damit gelingt es ihnen, aus existierenden, aber nicht komplett erfassten Wechselwirkungs-Netzwerken Schlüsse über die Gesamtgröße der betrachteten Netzwerke (Interaktome) zu ziehen. Diese Schlüsse sind natürlich von den bisherigen „Mess“ergebnissen der Interaktomforschung abhängig. Sie ergeben aber bereits interessante Zahlen: Das Interaktom des Menschen ist demnach ungefähr dreimal so groß wie das des Fadenwurms (obwohl die Größen des Proteoms vergleichbar sind) und eine ganze Größenordnung mächtiger als das der Fruchtfliege, die wiederum durch doppelt so viele Protein-Wechselwirkungen gekennzeichnet sein sollte wie die Backhefe. Der Mensch stünde damit mit 650.000 Interaktionen an der Spitze. Er besitzt allerdings trotzdem nur ein sehr dünn besiedeltes Netzwerk, denn diese Zahl entspricht gerade einmal 0,2 Prozent der theoretisch möglichen Wechselwirkungen. Einen kleinen Trost liefern die Studienautoren mit: bei anderen Arten sieht das Netzwerk noch viel dünner aus.