Menschenfresser und Samurai

Die hohe Schule des Anime-Surrealismus: Monster-Sushi à la "Kemonozume"

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Wenn man die Anime-Serie Mushishi mit ihrem Beharren auf Entschleunigung, Stille und Poesie als eine extreme Ausprägung der gegenwärtigen Anime-Kunst betrachten kann, was wäre dann ihr diametrales Gegenteil? Etwa eine Story über Menschenfresser mitten im Japan der 1980er, die von katanaschwingenden Spezialisten gejagt und erlegt werden? Vorausgesetzt, diese Story wäre von Verrückten gezeichnet und animiert worden, die einen Heidenspaß bei der Sache hatten? Willkommen bei "Kemonozume".

Wenn eines bei der Rezeption japanischer Animes reizvoll ist, dann die Erfahrung nicht reduzierbarer Fremdheit, die einen immer ereilt, wenn man die besseren Produkte der Zunft konsumiert. Fremdheit nicht im Sinn eines wohlgefälligem Exotismus, der sich in heimeligen Bilder von Teezeremonien, hübschen Kimonodamen und lustig verklecksten Schriftrollen ergeht, sondern Fremdheit, die ungläubiges Stirnrunzeln und manchmal echtes Entsetzen hervorruft. Diese Erfahrung hat die Serie Kemonozume, die man oberflächlich dem Splatter-Genre zuordnen könnte, en masse zu bieten - und deswegen ist es wie oft in solchen Fällen: Worum es "eigentlich" geht, kann man nicht leicht sagen.

Mushishi

Zunächst einmal lebt die Geschichte, die bereits erwähnte Grundkonstellation vorausgesetzt, hauptsächlich von einem "Love-on-the-run"-Plot. Toshihiko, der Anführer der Kifuken-Menschenfresserjäger verliebt sich in Yuka, eine Frau, die sich als Menschenfresserin herausstellt. Statt sie, wie es seinem Job entsprechen würde, in Stücke zu hacken, brennt er mit ihr durch - ein Unternehmen, das wegen grundsätzlicher Inkompatibilitäten zum Scheitern verurteilt scheint.

Kemonozume

Erwähnt werden sollte außerdem, dass es eine Sache namens "Kemonozume" gibt, bei der es sich um das bestgehütete Geheimnis der Kifuken handelt: Wenn ein Kifuken-Kämpfer sich die Arme abtrennt und sie durch die abgehackten Klauen eines Menschenfressers ersetzt, wird er unbesiegbar - freilich um den Preis, dass die Klauen, denen die eigentliche Kraft der Menschenfresser innewohnt, ihn selbst langsam in einen Menschenfresser zu verwandeln drohen. Kemonozume als das Teufelsgeschenk an die Kifuken, das ihnen nützt, aber sie gleichzeitig unterwandert. So gaga ist auch der Rest der mannigfaltigen Sub- und Nebenplots. Was ein kampfsportbegabtes Äffchen und ein Riese in Anzug und Hut mit der ganze Sache zu tun haben, würde hier schlicht zu weit führen.

Die Serie ist sehr reich. Reich an Verrücktheiten, aber auch an ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten. Ob es um zeichnerisch verfremdete Live Action und Photographien, um Bullet Time, jede Menge Slapstick-Albernheiten oder die große Varianz der Zeichenstile geht - man merkt den 13 Episoden an, dass sie ganze Horden von Künstlern beschäftigt haben, die alle ihre eigenen Impulse im Gepäck hatten.

Nichtpornographische Form der Pornographie

Überraschend ist, dass diese Mannigfaltigkeit nicht zu einem ästhetischen Zerfall der Serie führt, und bei genauerem Hinsehen wird das nur durch die manchmal bis ans Daumenkinohafte reichende Skizzenästhetik des Hauptautors Masaaki Yuasa möglich. Diese Ästhetik dient als wunderbarer Container für viele andere "fashion statements".

Von Masaaki Yuasa

Bei einer Skizze darf man alles: drüberkleckern, reincollagieren, Ecken abreißen und anderes Zeug ankleben - es ist der Sinn von Skizzen, dass sie modifiziert und im künstlerischen Kontext auch völlig zerrupft und neu zusammengesetzt werden können. In diesem Sinn ist Kemonozume eine 13 Episoden lange, höchst kreativ zerrupfte Skizze, die seltsamerweise in jedem ihrer Aspekte das Ganze sinnvoll repräsentiert. Es soll ja Kampfsportstile geben, die die erratischen Bewegungen von Betrunkenen nachahmen, um die Erwartungshaltung des Gegners zu unterlaufen, und wenn der Gegner in diesem Fall die erlahmte Aufmerksamkeit des Publikums ist, dann hat er gegen die Trunkenheit von Kemonozume wenig Chancen. Es sollte jedenfalls wundern, wenn nicht allen, die Anime überhaupt der Betrachtung für wert halten, bei Kemonozume öfters die Kinnlade herunterklappt.

Sehr interessant ist die Darstellung von Sexualität. Sie unterscheidet sich von den üblichen Fanservice- und Hentaispielchen so deutlich wie nur möglich. Nicht nur bietet sie sich kaum dem Zuschauer an, sondern bleibt, gebannt von der Grundsatzentscheidung zur Skizze immer "in" der Geschichte. Zusätzlich kann diese nichtpornographische Form der Pornographie die Themen Begehren, Angst, Macht, Exzess in eine unmittelbar fassliche Bildsprache übersetzen, indem sie die Liebe eines Mannes zu einer Frau darstellt, die sich beim Sex ständig in ein Monstrum zu verwandeln droht, dadurch wiederum selbst in Gefahr, dem Schwert des Geliebten zum Opfer zu fallen. Zwei Liebende, die sich auf diese Weise gegenseitig mit Vernichtung bedrohen, aber dennoch nicht voneinander ablassen wollen - das ist so nur im Anime möglich, und auch nur in einem wie diesem.

Also doch hohe Kunst im Trashkostüm? Oder originärer Trash? Schwer zu sagen. Dass mit solch ausgefeilten Mitteln der stilsicheren Stillosigkeit, mit einem fast schon daoistisch zu nennenden absichtsvoll-absichtslosem Verfehlen von Einheit, Identität und Konstruktion eine eigentlich banale Love-on-the-Run-Geschichte erzählt wird, gibt doch zu denken. Man staunt über das Missverhältnis von Anlass und Aufwand. Die Anreicherung dieser banalen Story durch glitzernde kleine und große Nebensachen, den Extremismus der Darstellung, die kulturellen und popkulturellen Zitate erschwert die Bewertung dann wieder. Muss man Kemonozume gesehen haben? Ach, man muss ja im Grunde gar nichts, und nicht einmal irgendeinen Bildungskatalog kann man durch die Rezeption von Kemonozume aufwerten. Vielleicht ist die ganze Serie wirklich zu nichts anderem gut, als Animeliebhabern die Kinnlade runterklappen zu lassen. Das allerdings, so viel kann man versprechen, macht sie ganz hervorragend.