Menschheit ohne Raum?

Völkermordforscher Hartmut Diessenbacher über die Kriege der Zukunft

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Seit dem Ende des West-Ost- Konflikts und des atomaren Gleichgewicht des Schreckens ist eine eigenartige Leere und Orientierungslosigkeit eingetreten. Der große Feind ist verschwunden und plötzlich gibt es viele, ganz unterschiedliche Feinde, die den Frieden bedrohen. Vielleicht war es auch bereits vorher so und nur verdeckt vom Gegensatz der großen Blöcke. Meist sind es die Nachbarn, jedenfalls ist der Feind, von dem die wirkliche Bedrohung ausgeht, ins Innere des Landes eingezogen. Gleichzeitig scheinen die Staaten Macht und Organisationskraft verloren zu haben. Auch die Globalisierung der Ökonomie hat neben dem Verschwinden des großen Feindes dazu beigetragen.

Streng organisierte, einigermaßen disziplinierte und mit großer Waffenkraft ausgerüstete Armeen zogen seit dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr gegeneinander in den Krieg. Es handelt sich oft um blutige Auseinandersetzungen zwischen mehreren Parteien, die man gegenüber den möglichen Kriegen der hochgerüsteten Staaten als "low-intensity-conflicts" bezeichnet. Ein Saddam Hussein jedenfalls reicht zur Befriedung und zur Identifizierung des Bösen nicht mehr aus. Meist sehen wir unübersichtliche, nicht von einzelnen wirklich gelenkte Kriegswirren, die wie in Algerien, im Sudan oder in Kolumbien täglich ihre Opfer fordern und nur einen sinnlosen Terror zu offenbaren scheinen, Bürgerkriege, die plötzlich wie im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia oder Ruanda ausbrechen und eine Blutspur hinterlassen, oder den "kleinen" Terror oder die blinde Aggressivität, die überall und jederzeit ausbrechen können.

Kein Kampf der Kulturen

Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis ... Und wie bei anderen Dingen, so bestimmt auch bei den Menschen nicht der Verkäufer den Preis, sondern der Käufer. Denn mag jemand, wie es die meisten Leute tun, sich selbst den höchsten Wert beimessen, so ist doch sein wahrer Wert nicht höher, als er von anderen geschätzt wird.

Thomas Hobbes - Leviathan

Mit einem "Kampf der Kulturen" lassen sich diese Formen der Menschenvernichtung nicht beschreiben, auch wenn diese These zumindest reflektiert, daß es heute nicht mehr die einfache Front zwischen Ost und West, sondern viele Fronten gibt, die zwischen den großen Kulturen aufbrechen und durch die Migration auch in die ehemaligen Nationalstaaten eindringen.

Die blutigsten und längsten Konflikte finden in den armen, von sozialen Gegensätzen gespaltenen Dritte-Welt-Staaten statt. Bis vor kurzem galten sie als Stellvertreterkriege, Nachwehen des kolonialistischen Zeitalters und Rebellionen gegen die korrupten Mächte, die es hinterlassen hat. Mit dem alternativenlosen Kapitalismus ist auch die Schere zwischen Reichen und Armen nicht kleiner, sondern größer geworden. Das von Fukuyama optimistisch wieder einmal verkündete "Ende der Geschichte" hat nicht zu einer Befriedung der Erde geführt. Und auch wenn möglicherweise die Demokratie sich weiter ausgebreitet hat, so ging damit jedoch keine Verteilungsgerechtigkeit der Reichtümer und Ressourcen einher. Schlimmer noch: mit dem Verschwinden des Kommunismus ist soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung nicht nur unter Ideologieverdacht geraten, sondern erscheint mit der gestiegenen Mobilität des Kapitals und wegen der geschwächten Nationalstaaten auch kaum mehr durchführbar.

Die Bevölkerungsexplosion und die Gewalt

Hartmut Diessenbacher stellt in seinem Buch keine wirklich neue, aber doch interessante Deutung vor, mit der er die Kriege der Gegenwart und der Zukunft zu erklären sucht. Dabei geht es ihm nicht um den möglichen High-Tech-Krieg, sondern um den alltäglichen Kampf auf den Straßen und in den Dörfern. Überbevölkerung sei dessen Ursache, wobei diese stets relativ zur Produktivität eines ökonomischen Systems zu verstehen ist. Seine mit einem durchgängigen Ja beantwortete Frage lautet, "ob der ungehinderte Zeugungs- und Empfängnisdrang der Weltbevölkerung ihre wachsende Todes- und Tötungsbereitschaft zum Resultat hat." Grundlage sind das explosive Bevölkerungswachstum und die Zunahme von Kriegen und Völkermorden nach 1945. Von den 194 seit 1945 geführten Kriegen fanden 186 in Erdteilen und Regionen, überwiegend in Asien und Afrika, mit hohem Bevölkerungswachstum und geringer ökonomischer Produktivität statt.

Erst wenn das Bevölkerungswachstum und damit auch der "Nachschub" an jungen Menschen, die nach Arbeit und Anerkennung suchen, die Produktivität der Wirtschaft und die ausbeutbaren Ressourcen eines Landes übersteigen und immer mehr Menschen in Überzählige verwandeln, die keine Arbeit mehr finden, gesellschaftlich nicht integriert werden oder gar Hunger leiden müssen, beginnt die Demographie als Kriegs- und Völkermordsursache zu greifen. Da in vielen Dritte-Welt-Ländern die Produktivität und die Sicherung des Überlebens aber noch von der Landwirtschaft abhängen, ist die Überbevölkerung auch eine Frage des Raums. Das macht Diessenbacher besonders an seiner ausführlichen und allein schon lesenswerten Analyse des Bürgerkriegs in Ruanda deutlich, der 1994 ausgebrochen ist und vermutlich mehr als eine Million Opfer gefordert hat, die wahllos und oft auf bestialische Weise von meist jungen "Überzähligen" abgeschlachtet worden sind.

Das Problem solcher Länder liegt nicht nur darin, daß die Nahrungsmittelproduktion hinter dem Bevölkerungswachstum zurückbleibt, wozu auch ökologische Schädigungen beitragen, sondern daß das landwirtschaftliche Eigentum durch Vererbung immer kleiner wird und daß immer mehr junge Menschen ohne Existenzsicherung auf einen Arbeitsmarkt vor allem in den Städten drängen, der nur wenigen eine Chance anbietet. Die massenhafte Emigration in die reichen westlichen Länder ist, anders als während der im Vergleich zu den Entwicklungsländern schwächeren Bevölkerungsexplosion in Europa, nicht möglich. Daher wird eine wachsende Schicht von Überflüssigen herangezogen, die aber am gesellschaftlichen Reichtum und an der Macht teilhaben wollen. Wo es zuviele Überflüssige gibt, sinkt der Wert des einzelnen Menschen. Die meisten resignieren, kämpfen sich in Armut durch oder landen in der Kriminalität. Manche aber werden zu dem Typus, den Diessenbacher als die neue Gestalt des "Überlebenskriegers" beschreibt. Solche Menschen haben nichts zu verlieren, sind todesmutig und tötungsbereit, lassen sich schnell von Ideologien und Organisationen verführen, die ihnen eine Lebenssicherung und eine bessere Stellung im sozialen System versprechen. Im Krieg finden sie "Arbeit", einen Sinn und ein Leben, das etwas bietet und verspricht. Sie wechseln die Fronten, suchen nach den besten Möglichkeiten, sind meist keiner Gruppe bedingungslos loyal, zumal in Bürgerkriegssituationen die klaren Fronten in viele sich bekämpfenden und die Zivilbevölkerung bedrohenden Gruppen und Banden auflösen und das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr existiert.

Der Überzählige

Der Überzählige wird eine prägende Gestalt des 21. Jahrhunderts. Er kann die Erscheinung des Hungernden annehmen, der sich in das Millionenheer der Armen, der Kranken und der Slumbewohner einreiht; aber auch die Erscheinung des Verbrechers und Terroristen, des Umwelt- und Wirtschaftsflüchtlings, die des Asylanten oder die des Kriegers und Völkermörders. In jeder Form greift er, sei es die reichen Industrieländer, sei es die Kombattanten oder die Eliten im eigenen Lande.

Daß Bevölkerungswachstum im Verhältnis zur sinkenden Nahrungsmittelproduktion zu Kriegen führe, hatte bereits Malthus am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Theorie behauptet. Der Marxismus hingegen bildete sich vor allem auch gegen solche naturgesetzlichen Gesellschaftstheorien heraus und führte alle Konflikte im wesentlichen auf die veränderbaren kapitalistischen Produktionsverhältnisse zurück. Diessenbach nimmt zwischen diesen beiden Positionen eine Mittelstellung ein, denn nur dann, wenn das Bevölkerungswachstum nicht parallel mit einer Produktivitätssteigerung verläuft, kein neues Land erschlossen werden kann oder die Überschüssigen auswandern können, beginnt die demographische Komponente seiner Ansicht nach zu wirken.

Für ihn tragen übrigens Christentum und Islam eine Hauptschuld an der Bevölkerungsexplosion, weil sie traditionelle Praktiken der Geburtenkontrolle zerstört und den "ungehinderten Zeugungs- und Empfängnisdrang" erst geschaffen haben, der sich im Verein von Missonierung und Kolonialisierung um die Erde verbreitet hat und Mitte dieses Jahrhunderts voll zur Geltung gekommen ist, auch wenn in den reichen Ländern selbst jetzt die Bevölkerung nicht mehr wächst.

Aber nicht nur das Bevölkerungswachstum, sondern auch die Ressourcen an Land, Wasser oder Nahrungsmittel sind ungleich verteilt. Prinzipiell gäbe es genügend von allem für alle Menschen auf der Erde, selbst wenn die Weltbevölkerung bis zum Jahre 2050 auf über 10 Milliarden ansteigt. Theoretisch denkbar also wäre es, durch gerechte Umverteilung der Ressourcen das durch Armut bedingte Bevölkerungswachstum indirekt durch Verteilung einzudämmen. Diessenbacher ist wohl leider zurecht skeptisch. Auch wenn die Bürger der reichen Länder ihren Lebensstandard zugunsten der bevölkerungsexplosiven Länder herunterfahren würden, so daß jeder genügend zum Überleben hätte, würde sich vermutlich zeigen, "daß nach Sicherung der Selbsterhaltung zusätzliche Bedürfnisse zum Zuge kämen, die weit über das Interesse an Selbsterhaltung hinausgehen." Dann käme es erneut zu Verteilungskämpfen, bei denen wieder das Mißverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und endlichen Gütern durchschlägt.

Thomas Hobbes, der Gewährsmann für Diessenbacher, hat bereits das Problem der Überbevölkerung als globale Bedrohung gesehen, die wieder den Zustand des Kriegs aller gegen alle herbeiführt, wenn die einzelnen Staaten keine Ventile mehr haben: "Und ist die ganze Erde von Bewohnern überfüllt, so bleibt als letztes Mittel der Krieg, der für jedermann Sieg oder Tod bereit hat." Einer Weltregierung, die vermutlich einzig imstande wäre, etwas zu verändern, würde Diessenbacher die demographische Abrüstung empfehlen. Doch selbst wenn man morgen weltweit begänne, eine rigorose Geburtenkontrolle irgendeiner Art auszuüben, so würde bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts die Menschheit dennoch weiterwachsen - und so weitere Überzählige und Übervölkerungskriege hervorrufen. Wenn denn Diessenbachs Analyse richtig ist, so ist die Regulierung des Bevölkerungswachstums und damit die demographische Komponente von Kriegen stets nur die eine Seite, die andere müßte dennoch in einer Umverteilung der Ressourcen bestehen. Beides scheint aber heute nicht machbar zu sein. Daher sind die Gedanken Diessenbachers ebenso wie der Titelumschlag seines Buches in der Grundfarbe Schwarz.

Hartmut Diessenbacher: Kriege der Zukunft. Die Bevölkerungsexplosion gefährdet den Frieden. Hanser Verlag. 244 Seiten, DM 34.-