"Menschliche Exploration ist eine Art genetischer Imperativ"

Der Wissenschaftsastronaut und Leiter des Europäischen Astronautenzentrums Prof. Dr. Ernst Messerschmid im Gespräch

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Der 55-jährige Physiker und Professor für Luft- und Raumfahrttechnik der Universität Stuttgart, der am 30. Oktober 1985 zusammen mit Reinhard Furrer, dem Niederländer Wubbo Ockels und fünf amerikanischen Astronauten zur D1-Spacelab-Mission für sieben Tage ins All startete, erzählt nicht nur von der Arbeit und Struktur des EAC, sondern auch von den Schwierigkeiten und Zukunftsaussichten der bemannten Raumfahrt. Mit Blick auf die Internationale Raumstation (ISS) und allen sich daraus ergebenen Optionen, stellt Messerschmid auch philosophische Überlegungen über die Raumfahrt an. Dabei thematisiert er den Einsatz von Multimedia auf der ISS und nimmt auch Stellung zur ersten bemannten Marsmission und der Wahrscheinlichkeit von Leben im All.

Prof. Dr. Ernst Messerschmid

Wieviele Astronauten sind derzeit aktiv im Training. Und wie groß ist die EAC-Crew insgesamt?

Messerschmid: Heute besteht unser Team aus 16 aktiven Astronauten, wovon bereits elf im Weltraum waren: vier aus Deutschland, vier aus Frankreich, drei aus Italien und sechs aus anderen Mitgliedsländern. Insgesamt flogen bei 31 Missionen bislang 27 europäische Astronauten ins Weltall, davon 17 mit dem Space Shuttle und 14 mit russischen Trägerraketen zu den Raumstationen Sojus 6, 7 und zur MIR.

Zurzeit herrscht ein Weltraumtechnologietransfer-Boom. Zahlreiche Spin-offs der Raumfahrt dokumentieren ihren pragmatischen Nutzen. Was bringt uns die Raumfahrt dagegen in philosophisch-intellektueller Hinsicht?

Messerschmid: Es ist leider so, dass wir Europäer in der bemannten Raumfahrt sehr utilitaristisch, d.h. sehr nutzungsbezogen denken. Dabei liegt doch der zusätzliche Sinn der Raumfahrt auch in seinem politischen und kulturellem Nutzen. Auf keinem anderen Gebiet kann man international so eng und effektiv zusammenarbeiten, ohne gleich in Konkurrenzsituation zu treten. Zweitens bekommen wir mit der ISS zum ersten Mal international eine Infrastruktur, die permanent bemannt ist. Erstmals können Raumfahrer Langzeit-Experimente in der Schwerelosigkeit durchführen und unseren Planeten respektive die Sterne von einer wartbaren Plattform aus kontinuierlich beobachten. Was immer von hier oben gemacht wird - es ist ein Teil der Exploration der Menschheit, der erste Schritt in eine neue Dimension. Der nächste führt uns vielleicht schon zum Mars. Meines Erachtens steckt in der Exploration eine Art genetischer Imperativ: Was wir tun, ist evolutionsbedingt vorgegeben. Gemäß der Prämisse "To stay is to die" können wir nicht einfach stehen bleiben. Dies wäre der Anfang vom Ende. Wir sind und werden nicht die erste Generation der Menschheit sein, die ihren Kindern und Kindeskindern sagt: Bis hierher und nicht weiter.

Die ISS - das erste wirklich globale Projekt der Moderne?

Messerschmid: Auf der ISS sind wir eine Bord Gemeinschaft, die alle Ziele und Vorgehensweisen gemeinsam definiert und harmonisiert. Bei der Auswahl der besten Leute und besten Experimente für die ISS herrscht untereinander ein gesunder Wettbewerb. Trotzdem ist die ISS eine Raumstation ‘without walls’. In Zukunft wird es nicht so sein, dass die europäischen Astronauten nur im Columbus-Modul sitzen und immer anfragen müssen, ob sie auch einmal in ein anderes Modul gehen dürfen. Der Betrieb ist so angelegt, dass die ISS gemeinsam entsprechend der jeweiligen Nutzungsanteile an der Station genutzt wird.

Früher gab es noch einen oft künstlich hochstilisierten Dualismus zwischen bemannter und unbemannter Raumfahrt. Dieser scheint nach der erfolgreichen Reparatur des Hubble-Weltraumteleskops durch Astronautenhand langsam abzuklingen?

Messerschmid: Anfang der Neunziger hatte sich noch die Deutsch-Physikalische Gesellschaft zur Aussage verstiegen, dass spätestens in 20 bis 30 Jahren auch das letzte Weltraumexperiment automatisiert werden kann. Dabei ignorierten sie jedoch, dass die kognitiven Fähigkeiten des Menschen mitsamt seinen taktilen Sinnen integraler Bestandteil der Forschung ist und eine unbemannte Raumfahrt erst auch möglich gemacht hat. Warum sollte man mit Hilfe der bemannten Raumfahrt nicht im Sinne der Kosteneffektivität zugleich Infrastrukturen wahren und technisches Gerät im All von Spezialisten reparieren lassen. Die Diskussion über den Sinn der bemannten Raumfahrt führen zumindest Astronomen seit der Hubble-Reparatur nicht mehr. Fraglos wird sich dies auf andere Gebiete fortsetzen - wie etwa bei den Satelliten zur Erdbeobachtung.

Die EAC-Crew der ESA

Ist auf der ISS der Einsatz einer Webcam vorgesehen?

Messerschmid: Das ist in der Tat als ein Teil der Kommerzialisierung angedacht. Es ist möglich, dass wir an bestimmten Stellen Kameras anbringen, die auf die Erde ausgerichtet sind und die dann jeder Interessierte via Internet live sehen kann. Theoretisch könnte man auch, sofern die ISS dieses Gebiet überfliegt, ein Bild seiner Heimatstadt beordern. Oder man geht in den öffentlichen Raum der ISS, wo diverse Kameras installiert sind, um dort das Geschehen per Mausklick live zu verfolgen.

Sind auch eigene ISS-Chatrooms oder öffentliche Bordtagebücher vorgesehen?

Messerschmid: Wahrscheinlich wird dies restriktiv gehandhabt. Aber alles, was zur Popularisierung der Raumstation beiträgt, muss getan werden. Obgleich es einen öffentlichen Raum auf der ISS geben wird, muss die Privatsphäre eines jeden Einzelnen sichergestellt werden. ‘Big-Brother’ wird es im Orbit auf jeden Fall nicht geben.

Erhalten Astronauten während ihrer Ausbildung eine spezielle Informatik-Schulung?

Messerschmid: Software und Datenverarbeitung sind wichtiger denn je und sind ein unentbehrlicher Teil der Ausbildung. Aber nicht nur über, sondern auch mit dem Computer wird gelernt. Computer-based Training ist nicht wegzudenken. Im übrigen vollzieht sich seit Spacelab eine Änderung in der Trainingsphilosophie. Früher, als Raumflüge im Schnitt bis zu maximal zwei Wochen dauerten, war man mehr prozedurorientiert: Für bestimmte Geräte, Elemente, Experimente und Systeme entwickelte man für alle Eventualitäten bestimmte Prozeduren, die man dann vorschriftsmäßig durchging. Heute, da Astronauten mitunter 90 Tage und länger an Bord sind, ist die Ausbildung wissensbasiert ausgerichtet. Davon ausgehend, dass nicht alle Situationen antizipiert und erlernt werden können, die eventuell eintreten, ist man dazu übergegangen, den Astronauten ein Verständnis für das Zusammenwirken der Systeme und Experimente zu vermitteln.

Politiker denken meist in Legislaturperioden. Andererseits sind sie es, die den Etat bestimmen. Kann sich eine zukunftsorientierte Raumfahrt parteipolitische Entscheidungen leisten?

Messerschmid: Bezüglich des Langzeitszenarios in der Raumfahrt gibt es zwischen repräsentativen Demokratien einerseits und präsidialen Systemen mit einer starken Administration oder gar diktatorischen Systemen wie etwa in der ehemaligen UdSSR andererseits schon Unterschiede. Erstene planen eher kurz- und mittelfristig, letztere mittel- bis langfristig. Bei alledem hat sich allgemein für die Planung ein stabilisierender Mechanismus herauskristallisiert. Denn durch die Einbindung aller Raumfahrtnationen in ein Gesamtkonzept, das mit der ISS seinen Höhepunkt erreichen wird, entsteht das größte Projekt der Raumfahrtgeschichte. Jeder Staat, der abspringt, würde sich nur selbst von der raumfahrttreibenden Gemeinschaft isolieren; er würde nicht mehr an den nachfolgenden attraktiven Programmen der Raumfahrt ohne weiteres partizipieren können. Auch wenn bestimmte bundesdeutsche Parteien gewiss andere Prioritäten als die Raumstation haben, sind wir doch durch internationale Verträge so abgesichert, dass ein Politikwechsel in einem oder anderern Land nicht sofort zum Abbruch des ISS-Programms führt. Das Ganze hat eine Eigendynamik bekommen. Die Raumstation wird zum Prüfstein. Wenn wir es nicht schaffen, sie kosteneffektiv aufzubauen und zu betreiben, dann brauchen wir an die Zeit danach - wie etwa an eine bemannte Marsmission - erst gar nicht zu denken.

Ist der von der NASA favorisierte Termin für die erste bemannte Marsmission am 20. Juli 2019 noch realistisch?

Messerschmid: Wenn wir bei der Kommerzialisierung von einzelnen Teilen der Raumstation halbwegs erfolgreich sind, bin ich optimistisch, dass der Termin zum 20. Juli 2019, also 50 Jahre nach der ersten Landung auf dem Mond, für die erste bemannte Marsmission noch nicht aus der Welt ist. Was spricht dagegen, dass in zehn Jahren viele Menschen in ihren Wohnzimmern bereits hochauflösende 3-D-Großwand-Fernseher haben. Dann ist es doch eine logische Folge, dass finanzstarke Fernsehsender wie CNN oder Konzerne wie Kirch eine Mars-Mission subventionieren. Per Pay-TV kann sich dann jeder Interessent in die Infrastruktur einklinken und an dem Abenteuer Mars hautnah teilhaben. Live-Bilder vom Start, vom Kleinerwerden der Erde bis ihn zur Marslandung - all das wird via Fernsehen bzw. Internet über den Bildschirm flimmern. Sollte die Multimedia-Industrie die Hälfte der Mars-Tickets zahlen, würde dies die Sache enorm beschleunigen. Ich glaube, dass dies alles so oder ähnlich kommen wird. Den Termin 2019 habe ich auf jeden Fall noch nicht abgeschrieben.

Glauben Sie, dass Exobiologen oder Radioastronomen eines Tages die Existenz von extraterrestrischem Leben im Universums nachweisen werden?

Messerschmid: Wir kennen halbwegs die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich Leben, wie wir es kennen, entfalten kann. Vor bereits über zwanzig Jahren haben die Exobiologen und Kosmos-Statisker gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit von außerirdischem Leben im All recht hoch ist, dass aber andererseits eine direkte Kontaktaufnahme mit extraterrestrischen Intelligenzen über Licht- oder via Radiowellen eher unwahrscheinlich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit Aliens physisch direkt in Verbindung treten, ist sehr gering. Was das Sonnensystem anbelangt, stellt sich die Frage: Ist es wirklich so wichtig, dort Leben vorzufinden? Hält nicht auf dem Roten Planeten spätestens dann Leben Einzug, wenn wir dort sind und bleiben. Wir sind es doch, die Pflanzen und Tiere als Teil unserer lebensnotwendigen Infrastruktur dorthin importieren. Und von daher werden wir die ersten Marsmenschen sein.