Merkel: "Dublin-Verfahren ist in der jetzigen Form obsolet"

Die "historischen Reden" der Kanzlerin und des französischen Staatspräsidenten Hollande vor dem Europaparlament

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Als historisch angekündigte Reden sind selten so markant, dass sie in Erinnerung bleiben. Als herausragende Ausnahme könnte man die "Blood, toil, tears and sweat"-Rede von Churchill anführen. Aber das war im Zweiten Weltkrieg, in ganz anderen geschichtlichen Umständen.

Die "historischen Reden", wie die heutigen Ansprachen vor dem Europaparlament von Hollande und Merkel angekündigt waren, sahen sich anderen Herausforderungen gegenüber. Beide sind auch keine guten Redner. Es wäre ihnen aber nicht schlecht bekommen, wenn sie wie Churchill deutlicher angesprochen hätten, was die "Herausforderungen", von denen beide sprachen - vor allem der Exodus der Flüchtlinge aus den ärmeren, kriegszerrütteten Regionen - im wirklichen Leben an tatsächlichen Anstrengungen bedeuten.

Etwa die Auseinandersetzung mit Härten, Ängsten ("werden Sozialleistungen gekürzt?"), Erschöpfung und Konflikten, die bis aufs Blut gehen, statt sich in den ewigen, aseptischen Beschwörungsgefilden ("Europa muss zusammenhalten" , "Die Europäische Union muss auf Grundlage der Prinzipien Solidarität und Verantwortung handeln") zu verbreiten.

Die Rollenaufteilung des Staatschefs und der Regierungschefin folgte den Vorgaben des public image. Hollande punktet in Umfragen in Frankreich stets nur, wenn er mit einer entschlossenen außenpolitischen Ansage oder innenpolitisch mit Ansagen gegen Terroristen Farbe bekommt und seine Worte mit militärischen Interventionen bekräftigt. Also war er für das "Kriegsdrama" in Syrien zuständig. Er warnte vor einem "totalen Krieg" im Nahen Osten und plädierte für eine Ablösung von Baschar al-Assad in Syrien.

Die deutsche Kanzlerin Merkel hat durch ihren Ukas Anfang September, durch den Flüchtlinge, die in Budapest festhingen, nach Deutschland durchreisen konnten, statt weiterhin der Härte der fremdenfeindlichen ungarischen Orders und der sie umsetzenden prügelnden Polizisten ausgesetzt zu sein, weltweit Image-Punkte mit der neuen deutschen Offenheitskultur geerntet (und Verdruss bei denen, die mit den Konsequenzen zu tun haben). So war sie mehr für den Schwerpunkt "Flüchtlingspolitik" zuständig.

Dabei ließ sie als einzig herausstechende Äußerung, die direkt mit praktischen Folgen verbunden war, fallen, dass das Dublin-Verfahren geändert werden müsse:

In der jetzigen Praxis ist es obsolet, seien wir ehrlich. Es war in der Tat gut gemeint, aber unterm Strich hat sich das als nicht tragfähig erwiesen. Ich setze mich ein für ein neues Vorgehen für Fairness und Solidarität in der Lastenverteilung.

Wie das neue faire und solidarische Dublin-Verfahren aussehen könnte, dafür gab es weiter keine Anhaltspunkte. Für solche Einzelheiten sind historische Reden auch nicht vorgesehen.

Bemerkenswert ist, dass heute zwei Publikationen, die Times in Großbritannien und der Standard in Österreich von einem internen EU-Papier berichten, das die Richtungsvorgaben der EU bestätigt, die von Abriegelung und Rückführung geprägt sind. Demnach sollen Hundertausende abgelehnte Asylbewerber sehr viel rascher zurückgeführt und die Grenzen zur Türkei dicht gemacht werden.

Auch von solchen Plänen war in den beiden historischen Reden nicht die Rede. Vertrauen, das Hollande zum Beispiel von den EU-Kritikern einfordert, gewinnt man aber nicht mit Reden, die Erfahrungen in der Wirklichkeit und konkrete Vorhaben überspielen.