Mexikos Oligarchie im Visier der Gewalt

Mordzahlen erreichen immer neue Rekorde. Hochrangiger Politiker der Regierungspartei PAN entführt

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In der vergangenen Woche wurde in Mexiko wieder einmal ein trauriger Rekord verkündet. In einer Woche – vom 12. bis zum 18. Juni – wurden in dem südlichen Nachbarstaat der USA 300 Menschen ermordet. Nach Zählung der Tageszeitung Reforma wurden in diesen Tagen 283 Männer und 17 Frauen getötet. Damit steigt die Zahl der Todesopfer durch Kriminalität seit Jahresbeginn auf 5.229 an. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, aber auch die Statistiken anderer Medien bestätigen den Trend: Mexiko geht im Sog der Gewalt unter. Je mehr die Furcht in der Bevölkerung zunimmt, desto größer wird die Kritik an der Regierung des konservativen Präsidenten Felipe Calderón.

Unter dessen Regierung hat sich die Sicherheitslage in dem Land schließlich massiv verschlechtert. Als der Politiker der rechtsklerikalen „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) 2006 nach einer wegen zahlreicher Unregelmäßigkeiten massiv umstrittenen Wahl die Macht übernahm, zählte Mexiko jährlich noch 2.119 Kriminalitätsopfer. Inzwischen hat sich die Zahl der Toten nicht nur verdreifacht. In Teilen des Landes haben Regierung und Sicherheitskräfte gar keine Kontrolle mehr.

Mitte des Monats erklärte sich Calderón deswegen in einer Regierungsansprache. In einer „Cadena“ – einer in TV und Radio zwangsweise übertragenen Sendung – rief er seine Landsleute zum gemeinsamen Kampf gegen die ausufernde Kriminalität auf. Das organisierte Verbrechen – also die Drogenkartelle – könnten nur gemeinsam besiegt werden. „Sie machen schließlich auch keine Unterschiede“, so Calderón.

PAN-Politiker Fernández de Cevallos entführt

Dass er dies inzwischen auch erkannt hat, mag an einem der jüngsten Entführungsfälle liegen. Ende Mai wurde der hochrangige PAN-Politiker und ehemalige Präsidentschaftskandidat Diego Fernández de Cevallos gekidnappt. Die Polizei fand auf dem Großgrundbesitz des mächtigen Parteifunktionärs bislang lediglich dessen Auto mit Kampfspuren und Blut, das Cevallos zugeordnet werden konnte. Die Gewalt, das ist das Novum in dem sonst an Entführungen nicht armen Land, macht auch vor der Oberschicht nicht mehr halt. Die Drogenbanden, so verkündete Felipe Calderón später in seiner Regierungsansprache, hätten sich bislang auf den Export von Rauschgift in die USA beschränkt. Nun agierten sie in zunehmendem Maße auch im eigenen Land.

Der Anti-Drogen-Kampf der PAN-Regierung und der ehemaligen Staatspartei PRI, die nach wie vor auf regionaler Ebene herrscht, wird von zivilgesellschaftlicher Seite jedoch immer stärker kritisiert. Die Gruppierungen der Oligarchie seien selbst tief in Bandenkriminalität verwickelt, heißt es von dieser Seite.

Diese Erfahrung mussten mexikanische und internationale Aktivisten Ende April machen, als ein Konvoi von Menschenrechtsbeobachtern im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca attackiert wurde. Bei dem Überfall, der PRI-nahen Paramilitärs zugeschrieben wird, starben zwei Teilnehmer der Gruppe: die Mexikanerin Bety Cariño und der Finne Juri Jaakkola. Nach der Attacke befanden sich mehrere Aktivisten in Geiselhaft. Angerückte Polizisten wurden von den lokalen Milizen beschossen und zogen unverrichteter Dinge wieder ab.

Der Zwischenfall zeigte vor allem eines: Die staatliche Macht wird in Mexiko immer weiter geschwächt und ist in Teilen des Landes in der Tat nicht mehr präsent. In einer Reaktion auf die Entführung seines Parteifreundes und engen Weggefährten Cevallos zog Calderón deswegen eine Parallele zu der Lage im südamerikanischen Kolumbien in den achtziger Jahren. Dort sei damals ein vergleichbarer Krieg gegen die großen Drogenkartelle geführt worden, sagte der mexikanische Präsident. In seinem Land müsse dieser Kampf schneller und effektiver angegangen werden.

Staat zieht sich vor Gewalt zurück

Was Calderón verschwieg ist das Scheitern dieses „Krieges gegen den Drogenhandel“. In Kolumbien hat die Militärisierung lediglich zu einer Korrumpierung von Regierung und Armee geführt. Beide Gruppen sind heute tief in den Paramilitarismus und Drogenhandel verstrickt. Selbst nach Beginn des so genannten Kolumbienplans, eines groß angelegten militärischen Hilfspaketes der USA, nahmen die Coca-Anbauflächen in Kolumbien um 15 Prozent zu. Die Produktion von Kokain wurde um vier Prozent gesteigert.

Soziale und Menschenrechtsorganisationen fordern deswegen mit zunehmender Vehemenz einen Politikwechsel auch in Mexiko. Der Kriminalität könne man nur beikommen, wenn den Drogenbanden durch eine neue Sozialpolitik die Basis entzogen werde, heißt es etwa aus der katholischen Kirche des Landes. Bislang ist die Regierung Calderóns, die einen strikt neoliberalen Kurs verfolgt, dazu nicht bereit.

So leidet das Land weiter unter einer verheerenden Mischung aus sozialer Marginalisierung großer Bevölkerungsteile und dem Vormarsch der Drogenkriminellen. Der Staat aber weicht zurück. Im Bundesstaat Nayarit an der Pazifikküste wurden die Sommerferien unlängst kurzerhand um drei Wochen vorverlegt, nachdem bei Gefechten 30 Menschen starben. Die Behörden, so hieß es zur Begründung, hätten Hinweise auf geplante Überfälle auf Lehranstalten gehabt.