Migration ist gut fürs Gehirn

Zumindest scheinen Zugvögel intelligenter als Sesshafte zu sein

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Sind Nomaden cleverer als Sesshafte? Zumindest bei Vögeln scheint an dieser Hypothese etwas dran zu sein, in evolutionärer Perspektive versteht sich. Deutsche Ornithologen haben Zugvögel unter die Lupe genommen und waren fasziniert von deren Gedächtnis. Die Verwandten, die lieber zuhause bleiben, schnitten dagegen nicht so gut ab.

Zugvögel haben Weltreisende und andere Rastlose schon immer beeindruckt. Irgendwann Anfang Herbst folgen diese Urahnen aller Nomaden plötzlich ihren Instinkten und verlassen ihre Heimat, nur um sich zehntausend Kilometer weiter für ein paar Monate niederzulassen, weil das Leben dort angenehmer ist. Wer zuhause bleibt, ist selbst schuld, scheinen die alljährlichen Schwärme am Himmel sagen zu wollen.

Erst langsam beginnen Wissenschaftler zu verstehen, wie Zugvögel denken. Noch nicht so lange bekannt ist zum Beispiel, dass viele Zugvögel gar nicht in Schwärmen von dannen ziehen, sondern alleine und dann oft auch noch nachts. Der große Zug nach Süden ist also kein alljährliches Sozialereignis, bei dem unerfahrene Vögel einfach denen nachfliegen, die schon mal "unten" waren. Sterne und das Magnetfeld der Erde scheinen eine gewichtige Rolle bei der Orientierung zu spielen, aber auch ein überlegenes Gedächtnis, wie die Forscherin Claudia Mettke-Hofmann von der Max Planck-Forschungsstelle für Ornithologie jetzt heraus gefunden hat.

Auf der eignen Scholle ist der Gedächtnishorizont begrenzt

Mettke-Hoffmann hat zwei Jahre lang zwei nahe Verwandte unter den Vögeln beobachtet, die nur 15 Gramm schwere Gartengrasmücke, ein Zugvogel aus unseren Breiten, und die Samtkopfgrasmücke, die am östlichen Mittelmeer zuhause ist und die den Winter über lieber daheim bleibt. In den Proceedings der amerikanischen National Academy of Sciences berichtet sie von ihren Experimenten.

Insgesamt 131 Gartengrasmücken und Samtkopfgrasmücken wurden in Gefangenschaft aufgezogen. Als sie erwachsen waren, durften sie dann an einem Tag im Herbst für achteinhalb Stunden ein eigens konstruiertes Gehege erkunden. Es bestand aus zwei Räumen mit unterschiedlicher Kunstvegetation und einer Reihe von Futterschalen. Nur in einem Raum jedoch waren diese Futterschalen auch gefüllt. Wie nicht anders zu erwarten war dieser Raum beliebter.

Der Clou der Versuche war nun ein Gedächtnistest, dem sich unterschiedliche Vogelgruppen nach vier Tagen, zwei Wochen, einem Monat sowie nach einem halben Jahr, nach einem Dreivierteljahr und nach einem Jahr unterziehen mussten. Dazu wurden die Vögel wiederum in besagtes Gehege entlassen, diesmal jedoch nur für zwanzig Minuten. Die Futterschalen waren alle entfernt worden, es gab also nirgends etwas zu essen.

Nicht nur besseres Gedächtnis, sondern auch größeres Hirn

Das Ergebnis war eindeutig: Nach vier Tagen und nach zwei Wochen erinnerten sich noch Vögel aller Gruppen an das kurz zurück liegende Fressgelage und bevölkerten entsprechend weit überwiegend den Raum, in dem sie auch diesmal wieder das Futter vermuteten. Nach sechs, neun und zwölf Monaten jedoch gab es klare Unterschiede zwischen den Gartengrasmücken und den Samtkopfgrasmücken. Nur die ersten, von der Evolution zur Migration erzogenen Geschöpfe, konnten sich noch an den richtigen Raum erinnern. Die anderen suchten planlos.

Wie in dem Artikel erläutert wird, passen diese Beobachtungen zu einer neuroanatomischen Auffälligkeit von Zugvögeln. So ist deren Hippocampus deutlich größer als bei sesshaften Vögeln. Diesem beim Menschen seitlich in der Schläfengegend liegenden Gehirnteil werden wichtige Funktionen bei der Ausbildung des Langzeitgedächtnisses zugeschrieben. Macht mehr Migration in der Gegenwart also intelligentere Menschen in der Zukunft? Wie immer in der Wissenschaft ist das natürlich alles nicht so einfach...