Mindestlohn-Wunder: Deutschland sprengt die Ketten der Armut?

Symbolbild: Gerd Altmann / Pixabay Licence

Deutschlands Mindestlohn steigt seit 1995 stetig an. Eine DIW-Studie zeigt, wie dies den Niedriglohnsektor verändert. Doch bleibt die Frage: Ist es ein echtes Wunder?

Die Bruttostundenlöhne in Deutschland sind zwischen 1995 und 2021 inflationsbereinigt im Durchschnitt um 16,5 Prozent gestiegen – dies ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), deren Ergebnisse an diesem Mittwoch veröffentlicht wurden. Dadurch sei der Niedriglohnsektor deutlich geschrumpft, teilte das Institut mit.

Lohnexplosion: Realität oder Mythos?

"Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ist auf einen Tiefstand der letzten 25 Jahre gefallen", erklärte Studienautor Markus M. Grabka. Gründe seien die Einführung und die schrittweisen Erhöhungen des Mindestlohns.

"Aber auch die veränderte Lohnpolitik der Gewerkschaften, die zunehmend auf Mindestzahlungen für untere Lohngruppen setzt, wirkt sich auf den Niedriglohnsektor positiv aus", so Grabka.

Hartz IV und seine Schatten

Mitte der 2000er-Jahre, als das Arbeitslosengeld II – auch bekannt als Hartz IV – und damit Sanktionen beim Bezug von Lohnersatzleistungen eingeführt wurden, war etwa ein Viertel der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt.

Das sei auch im internationalen Vergleich viel gewesen, betonten die DIW-Experten. Mit der Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro im Oktober 2022 waren es nur noch rund 15 Prozent. Die Niedriglohnschwelle lag im Jahr 2021 bei 13,00 Euro pro Stunde.

Einkommensungleichheit: Ein ungelöstes Rätsel?

Auch Haushaltsnettoeinkommen haben sich nach DIW-Angaben bis zum Jahr 2020 erhöht. Allerdings habe sich die Einkommensungleichheit in den letzten Jahren nicht verringert, weil die oberen Einkommen überproportional gestiegen sind.

Auch bei den Haushaltsnettoeinkommen, die von allen Personen in Privathaushalten – nicht nur von abhängig Beschäftigten – erfasst werden, unterscheiden sich die Erhöhungen seit 1995 stark: Die zehn Prozent der niedrigsten Einkommen sind gerade einmal um vier Prozent gestiegen, die höchsten zehn Prozent dagegen um rund die Hälfte.

Politik gefordert: Neue Strategien gegen Armut

Aktuell sei etwa jede sechste Person in Deutschland von niedrigen Einkommen betroffen. "Hier sollte die Politik nachsteuern", empfiehlt Grabka.

Zugewanderte müssten besser und schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden. Ihr Anteil im untersten Einkommensdezil – also den zehn Prozent mit dem schlechtesten Einkommen – hat sich laut DIW in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt.

Nötig seien eine gezieltere Förderung der Sprachkenntnisse für Zugewanderte sowie der Abbau von administrativen Hürden für ihren Jobeinstieg.

Zudem müssten junge Erwachsene ohne Berufsabschluss gezielt qualifiziert werden, da sie vielfach dauerhaft von Armut bedroht seien.

Kinderarmut: Keine einfache Lösung in Sicht

Außerdem mahnt das Institut eine zügige Einführung der Kindergrundsicherung an, um die Kinderarmut zu reduzieren. Zu bedenken sei aber, dass diese "die Ursachen für die schlechte finanzielle Lage der Familien nicht beheben wird".

Die finanzielle Lage der Privathaushalte insgesamt werde maßgeblich durch die weiterhin überdurchschnittliche Inflation beeinflusst. Eine Verbesserung sei auch davon abhängig, inwiefern die Gewerkschaften in der Lage sind, Lohnabschlüsse über der aktuellen Preissteigerung zu verhandeln.

Das DIW untersucht auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) jährlich die Einkommensentwicklung.