Mit Webcams die Welt fotografieren

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Ein autorenloser Bildautomat, eine globalisierte Fotografie

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Seit 10 Jahren sind Webcambilder mein Sammelgut. Im Archiv befinden sich 3 Millionen Bilder, heruntergeladen aus allen Kontinenten - das Netz reicht weit. Besucht werden allgemein zugängliche Webcams des öffentlichen wie des privaten Raumes. Ein gewisser historischer Charakter ist dem Archiv eigen, auch deshalb, weil Bilder von Webcams darin versammelt sind, deren Betrieb schon längst wieder eingestellt wurde.

Webcams fotografieren geduldig Welt. In unterschiedlichen Rhythmen stellen sie für kurze Zeit kleine Bilder ins Netz, die wiederum vom nächsten überschrieben werden, welche wieder … und so fort (insofern zeichnet diese Bilder eine hohe Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit aus, da sie sich durchs stetige Überschreiben quasi ständig selber vergewissern).

Bei der Aufnahme rückt kein Fotograf, kein Autor die Kamera zurecht, der Bildausschnitt ist oft über Jahre hinweg der gleiche. Techniker wohl klettern auf Kandelaber, montieren z.B. eine fixe Verkehrsüberwachungskamera, richten sie ungefähr so dass der bestimmte Straßenabschnitt schön im Bild ist und überlassen dann die Cam sich selber. Ab und an kommt es dann vor, dass – durch Wind und Wetter oder zu lasches Befestigen – selbige den „Kopf“ mehr und mehr hängen lässt und somit das eigene Standbein fotografiert. Selbstbespiegelung sozusagen.

Vorzüglich eignen sich Webcams auch als Habitat für allerlei Getier. So spannen Spinnen gerne ihre Netze vor die Linse, Fliegen, Käfer oder Wespen krabbeln ins Bild und Vögel wissen die hoch über der Welt thronenden Beobachtungspunkte inzwischen als Raststätten zu schätzen.

Auch für die Fotografie ist dies Neuland

Plötzlich hat die Kamera tausend Augen. Linsen fügen sich vernetzt zu einer einzigen, ständig fotografierenden Kamera, der heimische Bildschirm ist der Sucher, die Maus der Fänger.

Linse und Sucher sind separiert, häufig kontinentweit. Die Linsen sind eingebettet in ein privates oder öffentliches Umfeld. Draußen Wind und Wetter, Flora und Fauna, drinnen den Zumutungen privater Betreiber ausgesetzt, starren sie auf das Geschehen. Die Welt setzt sich selber ins Bild. Ein autorenloser Bildautomat, globalisierte Fotografie.

Die freigesetzten Linsen gehen den Gang der Dinge. Wind, Schmutz, Regen und Schnee können deshalb Akteure in den Bildern sein ebenso wie Insekten und Vögel, drinnen dann Papierstapel, Staub, Stromkabel, Jalousien und dergleichen.

Die Linse mit Gehäuse (Webcam) generiert so neue Bilder, indem sie sich als Objekt indirekt mit ins Bild einbringt. Sie bedingt gewisse Bilder durch ihre relative Autonomie und ihre Bauweise. Mit einer herkömmlichen Fotokamera lassen sich diese Fotos nicht festhalten. Erst das Entkoppeln, gleichsam das Aussetzten der Linsen machen diese möglich.

Webcams sind sozusagen unsere in den Lauf der Dinge eingebetteten Berichterstatter.

Die Zwecke, die sie erfüllen sollen, und mithin die Intentionen der Betreiber, sind nicht bei jeder Cam augenfällig. So eilt man (je nach Intention) wie der herkömmliche Fotograf auf der Pirsch von Cam zu Cam, von Kontinent zu Kontinent und hofft auf Zeit und Ort, einerseits.

Andererseits drängen sich konzeptuelle Ansätze beim Arbeiten mit Webcams geradezu auf. Diesbezüglich gilt es das Serielle der Bildproduktion, den fixen Blick über Jahre hinweg, die Autorenlosigkeit hervorzuheben. Das sind einzigartige Charakteristiken von Webcams.

Die Bilder sammeln sich also in meinen Speichern. Heruntergeladen - und somit gerettet von ihrer Vernichtung durchs Überschreiben des nächsten Bildes - werden diese von mir sozusagen in Autorenhaft genommen.

Alle Bilder: © Kurt Caviezel

Diesbezüglich fragt sich auch, wo diese Bilder überhaupt entstehen. In der Webcam (Linse) selber, auf dem Server des Webcambetreibers, auf meiner Festplatte oder erst beim Ausdruck?

Öffentlich zugängliche Überwachungskameras, wie Webcams auch genannt werden (und umgekehrt), sind nicht böse. Sie dokumentieren Welt, auf brisante Weise auch den Zustand der Dinge. Sie erweitern und erneuern aber auch frappant das fotografische Arbeiten. Die Welt kann fotografiert werden.

Kurt Caviezel, Fotokünstler, lebt und arbeitet in Zürich. Er fotografiert die Welt ausschließlich mittels Webcams.
Hompage: www.kurtcaviezel.ch

Mit Webcams die Welt fotografieren (14 Bilder)