Moderne Kunst als Folter

Anarchisten haben im spanischen Bürgerkrieg surrealistische Gefängniszellen gebaut

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Ein Kunsthistoriker hat Prozessunterlagen entdeckt, die belegen sollen, dass Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg Gefängniszellen gebaut haben, die zu Folterzwecken mit surrealistischer Kunst ausgestattet wurden.

Gefängniszellen grenzen den Raum ab, sind schmucklos und karg, jederzeit einzusehen und auf das nötigste reduziert. Sie dienen meist nur einem Zweck: der Verwahrung von Personen unter ständiger Überwachung. Der spanische Kunsthistoriker Jose Milicua hat der Tageszeitung El Pais von Gefängniszellen berichtet, gebaut im Jahre 1938, die dem Prinzip des simplen Einsperrens in einem viereckigen Kasten widersprechen. Seinen Angaben zufolge hat er Unterlagen eines Militärprozesses aus dem Jahre 1939, unter dem Franco-Regime, gegen den französischen Anarchisten Alphonse Laurencic entdeckt. Während des Prozesses berichtete dieser von Gefängniszellen, die er gestaltete, um die Gefangen auf eine bestimmte Art zu quälen. Er orientierte sich dabei an modernen Künstlern, vor allem an surrealistischen Malern wie Salvador Dali und an Wassily Kandinsky und Paul Klee.

Die Folterzellen

Die Folterzellen wurden in Gefängnissen in ganz Spanien errichtet. Sie sollten es ihren Insassen besonders unbequem machen und sie malträtieren. Dazu hatte er, so berichtete Laurencic vor Gericht, den Boden mit unregelmäßig geformten Fliesen ausgelegt, um den Gefangenen das Herumwandern in der Zelle zu erschweren. Die Wände der kleinen Zellen waren mit surrealistischen Mustern bedeckt, um die Insassen durcheinander zu bringen und ihren Geist zu verwirren. Die Wirkung der psychedelischen Malerei verstärkten Lichteffekte. Einige Zellen waren grün gemalt worden, weil grün, eine beliebte Farbe der Surrealisten, angeblich depressiv und melancholisch machte.

Damit die Gefangenen nur schlecht schlafen konnten, stellte man die Betten anstatt rechtwinklig zur Wand um 20 Grad verschoben auf. Auch die Stühle in den Zellen waren schief, versuchte einer in ihnen zu setzen, rutschte er sofort herunter. Durch die gebaute Verzerrung der Wahrnehmung sollten vermutlich die Insassen, über die Zeit, Flucht- und Orientierungspunkte verlieren. Andere Zellen wurden mit Teer ausgekleidet, so dass sie sich im Sommer unerträglich erhitzten. Den Gefangenen wurde zusätzlich der Film "Un Chien Andalou", von Luis Bunuel und Salvador Dali gezeigt, der die berühmte Sequenz enthält, in der ein Auge zerschnitten wird.

Surrealismus und Gefängnis

Eines der wichtigsten Ziele der Surrealisten war es, die rationale Ordnung zu überschreiten, den Unterschied zwischen Traum und Realität aufzuheben und eine neue Wirklichkeit zu schaffen, die keine festen Grenzen und Festschreibungen enthalten sollte. Sie wollten aus dem Unterbewussten, das Freud in den 1930er beschrieben hatte, und ungesteuerten Assoziationen schöpfen, um Kunstwerke zu erschaffen, welche die Betrachter schockieren, deren Weltbild erschüttern und sie aus dem Joch ihres herkömmlichen Lebens befreien sollten. In dem Wunsch und dem Glauben an die Erschaffung eines neuen menschlichen Zeitalters, und einer dafür notwendigen Revolte, standen sich die Bewegungen des Surrealismus und des Anarchismus sehr nahe. Vielleicht hat diese ideologische Nähe Laurencic inspiriert.

Trotzdem ist die Verwendung surrealer Kunst im Gefängnis verwunderlich. Die Surrealisten wollten mit ihren Bilderwelten den Menschen befreien und Grenzen niederreißen. Sie betonen in ihren Werken das Ineinanderfließende und wollten neue Räume erschaffen, jenseits des alltäglichen Bewusstseins. Alles Ideen und Vorstellungen die jeder Art von Gefängnis und Beschränkung widersprachen, selbst wenn sie von Anarchisten gebaut wurden, die vorgaben, die gleichen Ziele zu verfolgen wie sie. Noch widersprüchlicher wirkt die surreale Einzelhaft, wenn man bedenkt, dass sie von Anarchisten eingesetzt wurde, deren Hauptziel doch die Beendigung jeglicher staatlicher Ordnung war und nicht die Errichtung von Gefängnissen, eine der wichtigsten Institutionen, um die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Gefängnisse heute

Ob die surrealistische Kunst im Knast ihr Ziel erreicht hat, scheint Laurencic dem Gericht nicht mitgeteilt zu haben. Selbst wenn sie "erfolgreich" war, hätte sie keine Chance auf eine weite Verbreitung gehabt. Nicht nur weil die Reduktion von Gefängniszellen auf das Allernötigste kostengünstiger, sondern auch effektiver ist. Es ist viel leichter den Aufenthalt im Gefängnis unerträglich zu gestalten, indem man durch karge, wenig Sonnenlicht bietende, weiß gestrichene und nur Bett und Klo bestehende Zellen die Sinneseindrücke auf ein Minimum reduziert, anstatt den Insassen konstant zu verwirren. Zusätzlich kann dem Gefangenen leicht seine Menschlichkeit abgesprochen werden, indem man ihn zu einem Objekt degradiert, dass es nur aufzubewahren und zu überwachen gilt. Wozu dann noch die surrealistische oder irgendeine andere Kunst bemühen? Oder ihn anderweitig foltern?

Hinzu kommt, dass der Surrealismus nur noch schwerlich zu Folterzwecken verwendet werden könnte, sind doch seine Methoden zum gängigen Mittel von Musikvideos und Hollywood-Filmen geworden. Nicht um zu foltern, sondern profaner, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Eines ist zumindest sicher: die Übernahme der Avantgarde in die Konsumkultur zeigt, dass die Avantgarde von gestern, die Unterhaltung von heute ist. Und sie zeigt, dass der Surrealismus mit dem Versuch die Kunst zu revolutionieren wesentlich erfolgreicher war, als mit dem Versuch die soziale Revolution zu starten.

Wenn man den Kulturkritikern der Massenmedien folgen will, dann könnte es sogar noch schlimmer sein und der Surrealismus, als Mittel zur Unterhaltung, erneut am Bau eines Gefängnis beteiligt sein. Sie entdecken im Fernsehen und im Film ein virtuelles Gefängnis, das uns alle einfängt. Ein Gefängnis viel perfekter als das der Anarchisten des spanischen Bürgerkrieges, weil es ihre Insassen, ohne dass es räumlicher Einschränkungen bedarf, vor dem Bildschirm einsperrt, indem es sie zu passivem Konsum zwingt und ihnen genau das Leben verwehrt, welches ihnen spektakulär in den Heldenabenteuern der Film- und Fernsehstars vorgegaukelt wird. Anderseits könnte es aber auch sein, dass die surrealistische Idee so weiter transportiert wird und ihre subversive Kraft, die sich gegen jede Art von Gefängnis, Bevormundung und Unfreiheit wehrt, noch lange nicht aufgebraucht ist.