Moderne Tempel für das Narmada-Tal

Am Sardar Sarovar-Staudamm träumt Indien vom Fortschritt

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Zu Beginn des Jahres vermeldete Indien die Inbetriebnahme des Sardar Sarovar-Staudamms, mit dessen Bau vor 20 Jahren begonnen wurde. Der Damm ist das Herzstück eines milliardenschweren, äußerst ehrgeizigen und kontrovers diskutierten Entwicklungsprogramms für das Narmada-Tal. Die indischen Behörden versprechen sich Fortschritte in der Energieerzeugung, im Hochwasserschutz und in der Wasserbereitstellung für die riesigen dürreanfälligen Regionen im Westen des Landes. Umweltschutz- und Menschenrechtsgruppen weisen auf die verheerenden Folgen auf das Leben hunderttausender direkt vom Bau betroffener Menschen hin. Der Damm gerät zum Symbol der Widersprüche eines Landes, das sich im Aufbruch begriffen sieht und dabei einen Spagat zwischen der Etablierung westlicher Konsum-Gebaren für eine urbane Minderheit einerseits und gleichzeitigem Ausschluss einer breiten Mehrheit vor den Verheißungen der Moderne andererseits vollführt.

Sardar Sarovar-Staudamm
Quelle: Sardar Sarovar Narmada Nigam Ltd.

Der Sardar Sarovar-Staudamm im indischen Bundesstaat Gujarat ist als größter geplanter Damm Teil des Narmada Valley Development-Plans, der vorsieht, das Wasser der 1300 Kilometer langen Narmada und ihrer Nebenflüsse mittels 30 großer, 135 mittlerer sowie 3000 kleiner Dämme nutzbar zu machen. Bei Vollzug würde dann aus der Narmada eine Aneinanderreihung von Staubecken werden. In Madhya Pradesh ist mit dem Indira-Sagar-Staudamm ein weiterer Mega-Damm in der Entstehung begriffen. Die Narmada, die Nord- von Südindien trennt, gilt als einer der heiligen Flüsse Indiens. Die Hindus sagen, dass die bloße Ansicht des Flusses ausreiche, um alle Sünden wegzuwaschen. Für sie ist die Narmada eine Leben und Wohlstand spendende Göttin. Die ersten Pläne zum Dammbau am Fluss wurden bereits während der britischen Kolonialzeit erörtert. Diese nahmen in den 1950er Jahren konkretere Gestalt an. Groß-Staudämme wurden zum Synonym für Fortschritt schlechthin. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, auch heute gilt Nehrus Wort, der von den Dämmen als "Tempel des modernen Indien" sprach. Die Narmada soll das Wasser für eine auf Wachstum ausgerichtete Zukunft liefern, die auf Industrialisierung und den Ausbau der Exportlandwirtschaft setzt1.

Sardar Sarovar-Staudamm
Quelle: Sardar Sarovar Narmada Nigam Ltd.

Der Sardar Sarovar-Staudamm ist 1250 Meter lang. Er wird hinter sich Wasser auf einer Länge von über 200 Kilometern anstauen. Die hier in zwei Kraftwerken erzeugte Energie wird zwischen den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Maharashtra und Gujarat aufgeteilt. Die Aufteilung des Wassers der Narmada dagegen ist bis heute Streitgegenstand zwischen Madhya Pradesh und Gujarat. Die Folgen des Dammes für das Mündungsgebiet der Narmada am Arabischen Meer sind bisher nicht vollständig abzusehen. Es wird eine Versalzung des umliegenden fruchtbaren Ackerlandes erwartet; sie bedroht die Existenz vieler Kleinbauern und Flussfischereien.

Der Bau ist noch nicht fertig

Gujarats Ministerpräsident Narendra Modi versprach, dass der Damm 1450 Megawatt liefern wird. Doch die Fachleute wissen, dass das erst beim angepeilten Vollstauziel von 138,68 Metern über dem Meeresspiegel möglich sein wird - wenigstens theoretisch. Derzeit liegt die Höhe der Staumauer bei 121,92 Metern. Die Aufstockung der Überlaufkante von der Vorgängerhöhe (110,64 Meter) wurde von scharfen Protesten begleitet und aufgrund gerichtlicher Scharmützel mit Aktivisten von Narmada Bachao Andolan (NBA) (Bewegung zur Rettung der Narmada) um mindestens fünf Jahre verzögert. Der Bundesstaat Gujarat will die weitere Aufstockung vorantreiben, sieht sich jedoch erheblichen Schwierigkeiten hinsichtlich der Entschädigung betroffener Anwohner gegenüber: weitere 15.000 Menschen aus 15 Dörfern müssen entschädigt werden. Für die Aufstockung muss die Erlaubnis der Narmada Control Authority (NCA) vorliegen, und die wird offiziell nur dann erteilt, wenn die beteiligten Bundesstaaten nachweisen können, dass die von den Überflutungen betroffenen Familien entschädigt wurden. Mit diesem schrittweisen Vorgehen soll die Fertigstellung des Dammes gewährleistet werden.

Katastrophale soziale Folgen

Der Bundesstaat Madhya Pradesh trägt mit mehr als 24.000 Familien den Hauptanteil der Rehabilitations-Maßnahmen; hier ist man jedoch immer noch mit den Folgen der letzten Aufstockung beschäftigt. Und niemand kann versichern, dass die Betroffenen das Gebiet tatsächlich verlassen - immer wieder wird beobachtet, dass Familien erst angesichts der unmittelbar bevorstehenden Überflutung die Gegend verlassen. Narmada Bachao Andolan kritisiert, dass in den Bundesstaaten Maharashtra und Gujarat mit solcherart Maßnahmen vielfach noch gar nicht begonnen wurde. Insgesamt sind mindestens eine halbe Million Menschen direkt von Umsiedelungsmaßnahmen betroffen. Weitere 21 Millionen Menschen, die beim Erwerb ihres Lebensunterhalts direkt an die Ökologie des Narmada-Tals gekoppelt sind, wie Kleinbauern oder Fischer, sind ebenfalls betroffen. Der eigentliche Plan, diese Menschen durch Land in einer anderen Gegend zu entschädigen, wurde mittlerweile verworfen. Der Erlös der per Bargeld erfolgenden Entschädigungen macht nur einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes der eingebüssten Besitztümer aus.

Als einer von geplanten 30 großen Staudämmen wurde der am größten Narmada-Nebenfluss Tawa gebaute Damm bereits 1978 fertig gestellt. Damals gingen 44 Adivasi-Dörfer in den Fluten des Stausees unter. Nach jahrelangem Kampf gab es Erfolg versprechende Ansätze, vertriebene Ureinwohner in einer Fischereikooperative aufzufangen. Die Fischerei-Lizenz endete im Dezember 2006. Durch die Eingliederung in einen Nationalpark soll die Fischerei verboten werden.
Quelle: Google earth, 22°33'50.96"N, 77°58'35.07"E

Für die Narmada Bachao Andolan-Aktivistin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Medha Patkar ist der Sardar Sarovar-Damm ein klassisches Beispiel für die Bevorzugung der Reichen des urbanen Indiens, deren Wohlstand auf dem Rücken der Ärmsten der Gesellschaft gesichert wird. Außerdem würde der Damm in letzter Konsequenz das Wirtschaftsgefüge der ländlichen Gebiete Indiens zerstören. Indigene Bevölkerungsgruppen (Adivasi) werden dabei am stärksten in Mitleidenschaft gezogen - sie stellen rund die Hälfte der betroffenen Bevölkerung. Sie sind Selbstversorger und verlieren nun ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage sowie ihre Identität in den Fluten der angestauten Narmada. Arundhati Roy wies darauf hin, dass jene 30.000 Ureinwohner keine Entschädigung bekommen, deren Land nun von den Umgesiedelten bewohnt oder anderweitig genutzt wird.

Narmada Bachao Andolan hatte dafür gesorgt, dass die Kampagne gegen den Damm weltweit wahrgenommen wurde. Die Weltbank zog in der Folge ihre finanzielle Unterstützung des Projektes zurück - auch für andere große Staudammprojekte generell. Im Laufe der Jahre nahmen die Proteste an Schärfe zu. Zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen setzte der Staat verstärkt auf Repression; mehrere Staudamm-Gegner kamen zu Tode. Narmada Bachao Andolan gelang es, durch ein geknüpftes internationales Netzwerk massiven politischen Druck auszuüben. Einige europäische Unternehmen zogen sich in der Folge aus dem Narmada-Tal zurück. Kurzzeitig - im letzten Jahr feierte die Voith Siemens Hydro Power Generation den Montagebeginn der ersten Einheit für das indische Wasserkraftwerk Omkareshwar an der Narmada.

Im Indien von heute schwindet zunehmend das Interesse an den Argumenten der Dammkritiker; auch Teile der internationalen Solidaritätsbewegung zeigen Erschöpfungserscheinungen. Die Regierung von Gujarat verstand es im Besonderen, durch die Schürung des Interessenkonfliktes zwischen den Betroffenen von Wasserknappheit im Westen des Landes und den Betroffenen der Staudammbauten die Bauarbeiten voranzutreiben. Und immer wieder geht der Blick hinüber zu den Chinesen, die mit dem Drei-Schluchten-Staudamm gerade neue Maßstäbe gesetzt haben.

Sardar Sarovar-Staudamm
Quelle: Friends of River Narmada

Vom Sardar Sarovar-Staudamm soll ein insgesamt 86,000 Kilometer langes Kanal-Netzwerk ausgehen, das 1.8 Millonen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche bewässern und gleichzeitig Trinkwasser für 20 Millionen Menschen in den Bundesstaaten Gujarat, Rajasthan, Madhya Pradesh und Maharashtra bereitstellen soll. Die für den Kanalbau Enteigneten haben keinen Anspruch auf Entschädigung. Das Wasser der Narmada soll genug Brachland bewässern, um die Ernährung von Millionen von Menschen sicherzustellen. Verzögerungen und technische Probleme beim Bau des Kanalsystems führten immer wieder zu Versorgungsengpässen. Kritiker befürchten, dass ein Großteil des Wassers in den industrialisierten und vergleichsweise wohlhabenden Gegenden Gujarats verwendet wird. Gerade dort soll die Nahrungsmittelproduktion nicht ausgebaut werden, hier setzt man vielmehr auf den Anbau bewässerungsintensiver Kulturen wie Baumwolle, Zuckerrohr oder Ölsaaten. Ob das kostspieligste, jemals in Indien umgesetzte Projekt tatsächlich von Nutzen für die weiter entfernt gelegenen und gleichzeitig am bedürftigsten Gegenden ist, wird bezweifelt.