Monets Vermächtnis

Die Hamburger Kunsthalle erforscht das Gesetz der Serie

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Vor über hundert Jahren trauten die Besucher einer neuen Monet-Ausstellung in Paris ihren Augen nicht. Auf insgesamt 15 Bildern sahen sie das gleiche Motiv: Heuhaufen, in immer neuer Anordnung, Farbe und Gestalt. Monets systematische Auseinandersetzung mit Motiven und Gestaltungsmitteln wurde im 20. Jahrhundert zu einer zentralen Methode zeitgenössischer Kunst weiterentwickelt. Die Hamburger Kunsthalle hat solche "Serien-Produktionen" jetzt zum Thema einer umfangreichen Ausstellung gemacht. Bis Anfang Januar sind in der Hansestadt Werke weltberühmter Künstler wie Alexey von Jawlensky, Piet Mondrian, Roy Lichtenstein, Gerhard Richter oder Andy Warhol zu sehen.

Das Arbeiten in Serien bedeutet den Abschied von einem jahrhundertealten Kunstverständnis. Wer die Wiederholung zum Grundprinzip eines Werkes macht, verzichtet demonstrativ auf die Möglichkeit, ein einmaliges, unverwechselbares und signifikantes Meisterwerk zu schaffen. An seine Stelle treten Reproduktionen und Kopien oder aber ausgewählte Aspekte und Momente, die das Grundmotiv in immer neuen Varianten erscheinen lassen.

Für diese Art der Kunstproduktion gibt es zahllose Definitionsmöglichkeiten und Beweggründe. Insofern muss die Hamburger Ausstellung mit dem Vorwurf der Beliebigkeit leben: sie kann unter dem Titel "Serie" die ausgewählten Bilder und Skulpturen zeigen, sie hätte sich aber - ebenso begründet und nachvollziehbar - für andere Werke entscheiden können. Gleichwohl bemühen sich die Verantwortlichen, das Phänomen "Serie" wenigstens ansatzweise zu systematisieren. In sechs Abteilungen werden Konzepte vorgestellt, die untereinander motivische und - wenn man so will - philosophische Verbindungen aufweisen.

Zunächst geht es um das "(sich) verändernde Licht". So wie Monet seine Heuhaufen oder später die berühmte Waterloo-Brücke in wechselnden Beleuchtungen vorstellte, ließ Sol LeWitt aus einem weißen Würfel und neun Lichtquellen über 500 unterschiedliche Darstellungen der gleichen Form entstehen. Auch der Photograph Hatakeyama spielt mit unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Er versucht, die japanische Metropole Tokio im Wandel der Jahreszeiten festzuhalten und neben dem Wechsel von Licht, Atmosphäre und Stimmungen auch das Vergehen der Zeit einzufangen.

In der zweiten Abteilung, die "Mitten jetzt - im Fluss" betitelt ist, rückt das Widerspiel von Zeit und Vergänglichkeit vollends in den Mittelpunkt. Jawlenskys "Meditationen" sind Ausdruck des verzweifelten Versuchs, der eigenen Person im Strom der Zeit einen festen Platz zuzuweisen und gleichen damit - nicht ästhetisch, aber prinzipiell - der banalen Aneinanderreihung von Daten, mit denen On Kawara einzelnen Tagen neue Bedeutung geben will.

"Freiheit durch System" dokumentiert den wohl radikalsten Bruch mit einem traditionellen Kunstverständnis. Piet Mondrians "Kompositionen mit Gitterwerk" beschränken sich auf einfache Linien, Formen und Farben und lassen Gedanken an hehres Künstlertum, Inspiration und Ausdruckswillen gar nicht erst aufkommen. Gleiches gilt für Gerhart Richters "192 Farben" aus dem Jahr 1966 oder Josef Albers ineinander gestaffelte Quadrate, die den Interpretationsspielraum des Betrachters durch formale Präzision begrenzen.

"Shock of the Real" heißt folgerichtig das nächste Kapitel, das die künstlerische Kreativität auf die geradezu mathematisch korrekte Anordnung fassbarer Objekte begrenzt. Donald Judds vier Kuben und Ronald Rymans mit Emaillack auf Wellpappe zelebrierte "VII" verändern ebenso wie Carl Andres Stelenfeld "Llano Estacado", das im Erdgeschoss der Kunsthalle aufgebaut ist, mit jeder Bewegung das Verhältnis von Objekt und Raum. Sie illustrieren aber auch besonders eindrucksvoll den Untertitel der Ausstellung, indem sie zeigen, dass Serien nicht nur Ordnungsprinzipien, sondern auch Ausdruck einer Besessenheit sein können. "Das Gleiche ist nie gleich" zeigt konstante Bildmotive, die erst im Vergleich Varianten und Detailunterschiede deutlich werden lassen. Direkt anschließend geht es in "Gleich gemacht?" um die Gefährdung des menschlichen Individuums durch totalitäre Systeme und pseudoliberale Massenkulturen. In Vanessa Beecrofts Filmtableau "VB46", Bernhard Prinz' "Reine Wäsche" oder Warhols Marilyn-Porträts verschwindet jede Subjektivität hinter Uniformen, Konsumzwängen und beängstigenden Reproduktionsmöglichkeiten.

In Hamburg sind die konzeptionell Verantwortlichen auch auf Kritik und Widerspruch vorbereitet. Sie halten es durchaus für möglich, "dass sich die hier getroffenen Unterscheidungen doch nicht bewähren, weil es zu viele Grenzüberschreitungen, Doppelbelegungen und kategorische Ausbrüche gibt." (Christoph Heinrich im Begleitkatalog)

Doch das ist nur ein konzeptionelles und methodisches Problem und leider auch nicht das einzige, welches "Monets Vermächtnis" mit sich bringt. Die Ausstellungsmacher müssen sich schon Grundsätzlicheres fragen lassen. Schließlich versuchen sie, mit dem Namen Claude Monet Besucher in die Kunsthalle zu locken, die andernfalls vermutlich kein Bedürfnis verspürt hätten, sich Datentafeln von On Kawara, Sabine Emmerichs Hühner-Serie "Hofporträts" oder Allan McCollums bizarre Massenproduktion "Over 10.000 Individual Works" anzuschauen. Ein solches Vorgehen ist nur auf den ersten Blick pädagogisch wertvoll, denn wenn beispielsweise Roy Lichtensteins Bilderreihe "Rouen Cathedrale, Seen at three different times oft the day" direkt und kommentarlos mit Monets "Das Portal und der Albanturm bei vollem Sonnenschein" konfrontiert wird, liegt ein Imageschaden für die zeitgenössische Kunst immerhin im Bereich des Möglichen.

Um das zu vermeiden hätte sich die Ausstellung nicht nur auf den bemerkenswerten, aber nicht eben preisgünstigen Begleitkatalog zurückziehen dürfen, sondern in den Räumen selbst deutlich mehr Erklärungen und Ausblicke geben müssen, inwieweit das Gesetz der Serie mittlerweile auch unser Alltagsleben erfasst hat und gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen mitbestimmt. So bleibt mindestens fraglich, ob "Monets Vermächtnis" - trotz der herausragenden Qualität vieler Werke - maßgeblich dazu beitragen kann, das Verhältnis von Kunst und Realität und deren Funktionsmechanismen weiter aufzuschlüsseln.

Die Ausstellung "Monets Vermächtnis. Serie - Ordnung und Obsession" ist bis zum 6. Januar 2002 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog (45 DM) mit erläuternden Texten und farbigen Abbildungen sämtlicher Exponate erschienen.