Montage jetzt noch langweiliger

Heute liegt "jetzt" zum letzten Mal der Süddeutschen Zeitung bei

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Um zu verstehen, warum es so furchtbar ist, dass es in Zukunft kein 'jetzt'-Magazin mehr geben wird, muss man nur die eben erschienene letzte Ausgabe lesen.

In der steht kein prätentiöser Nachruf der Redaktion, da ist kein Foto dackelaugentrauriger Redakteure, kein Geflenne, kein Getrete. In der letzten Ausgabe des 'jetzt'-Magazins wurden auf 26 weißen Seiten in schwarzer Schrift 3657 Gründe gedruckt, "warum es sich zu leben lohnt." Da stehen nun hintereinanderweg Sätze, Satzfetzen oder einzelne Wörter von Lesern, Freunden, Bekannten, (ehemaligen) 'jetzt'-Mitarbeitern und anderen Menschen. Auszüge: "Versöhnungstelefonsex" - "Der Leberkäsmönch" - "Barfuss über die Wiese" - "So klug zu sein, selbst aus Versehen das Richtige zu tun." - "Das Jetzt zu leben" - "Nachts am offenen Fenster nach dem Regen, allein, Element Of Crime hörend, nichts mehr denken" - "'jetzt' im Netz - als kleiner Trost für langweilige Montage".

'jetzt' hat seine Leser nie verarscht. 'jetzt' war immer ehrlich, klug, respektlos - und wirklich jung. Da gab es legendäre Ausgaben wie das Omaheft, das Girlieheft, das Autoheft, das White-Trash-Heft, das Kassettenmädchenheft, das Verliebtseinheft, das Alleine-Ausgehenheft, das Roboterheft, das Telefonstreicheheft, das Elternheft, das Filmfestheft, das Bücherheft und viele mehr. Niemand sonst sprach die Sprache der Jugend so punktgenau, so künstlerisch und doch erdig, so direkt und doch von hinten in die Brust, so liebenswert offen. Wenn es auch manchmal Prügel von Spex gab, weil die neue Rubrik "Nur für Jungs/Nur für Mädchen" Geschlechterklischees zementiere. Wenn auch manche Kollegen witzelten, 'jetzt'-Artikel würden immer gleich anfangen, nämlich "Mit dem .... ist das so eine Sache" oder ".... ist magisch" - 'jetzt' war immer etwas besonderes, und oft genug eben wirklich magisch.

Seit 1993 lag das Heft jeden Montag der Süddeutschen Zeitung bei. Anfangs noch großformatig, wurde es mit den Jahren immer kleiner. Bis es heute ganz verschwindet. Für die Herren in der oberen Verlagsetage war es ein Werkzeug, um junge Leser an das Blatt zu binden. Für Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust war es "die einzige authentische Stimme der Jugend in Deutschland". Für unzählige Leser und manche Autoren und Fotografen war und wird es immer bleiben: ein Teil der eigenen Jugend.

Der Grund fürs schreckliche Ende ist die allgemeine Flaute auf dem deutschsprachigen Zeitungsmarkt. Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Kölner Stadt-Anzeiger bis hin zur Neuen Züricher Zeitung streichen fast alle Blätter in diesen Tagen Stellen und zuweilen ganze Ressorts. Es fehlen Anzeigengelder und oft auch Leser. Immer fehlt Geld. Über mangelndes Interesse seitens der Leserschaft kann man bei der Süddeutschen Zeitung zwar nicht klagen, ist die Auflage gar leicht gestiegen, doch sind große Teile des Anzeigengeschäfts (über das sich Presseerzeugnisse größtenteils finanzieren.) weggebrochen. Die Auftragseingänge bei den Anzeigen sanken um 22 Prozent, parallel zur Rezession im Land werden etwa 53 Prozent weniger Stellenzeigen geschaltet.

Schon auf der Gesellschafterversammlung im Juni stand die Einstellung des Jugendsupplements zur Disposition. Kurz darauf wurde das Ende dann offiziell besiegelt und nebenbei die Einstellung der 'Berliner Seiten' und die geplante Streichung von 500 Stellen bekannt gegeben. Eigentlich sollte die am 15. erschienene 'jetzt'-Ausgabe die letzte sein. Doch die Macher bekamen eine Gnadenfrist, um sich von ihren Lesern zu verabschieden. Das ist nun geschehen. Neun Redakteure und 24 freie Mitarbeiter sind vom Ende betroffen - und natürlich ungezählte Leser. Die können nun Montags immerhin auf die 'jetzt'-Homepage (vgl.Jetzt im Netz)wandern, die kürzlich den Förderpreis Medienkompetenz des Adolf Grimme Instituts erhielt, am selben Abend übrigens, an dem Telepolis mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.

Wie das so ist, wenn "doofe" Geschäftsmänner kommen und engagierte Projekte stilllegen (wir erinnern uns ans Ende von VIVA ZWEI, Autsch! VIVA PLUS ist seit einer Woche auf Sendung), brandete umgehend Protest auf. Unter www.jetztund fuerimmer.de gab es eine "Online Petition zur Rettung des Jetzt Magazins". Alle wichtigen Jugend-affinen Medienmodule - von Spex über MTV bis hin zu Jungle World - berichteten eilig über das Ende und klangen dabei sehr sauer.

1600 Unterschriften wurden gesammelt, Briefe an die Verantwortlichen geschickt, was natürlich alles nichts half. Auch nicht die Demonstration am vergangenen Samstag am Sendlinger Tor in München, an der mehr als 400 "jetztler" teilnahmen, Lieder skandierten und spontane Sitzstreiks machten. "Der Zorn der Leser ist verständlich. Wir müssen uns aber alle fragen, ob die Kosten in Relation zum Nutzen stehen", sagte Hans Werner Kilz, der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. "Ja, danke auch", dachte sich da so mancher Leser. Das oft prämierte 'jetzt'-Magazin (allein 31 Auszeichnungen des Art Director Clubs) war immer ein Prestige-Objekt. Wirklich rentabel war es wohl nie. Und wenn die Zeiten auf dem Zeitungsmarkt härter werden, stirbt immer zuerst der Idealismus. Da kann man wohl leider nichts machen: nur Danke sagen. Danke für all die Frechheiten, für die Ehrlichkeit, für neun Jahre 'jetzt' und unzählige gerettete Montagen.

Einen schönen Schlusssatz lieferte Christian Seidl, der von 1994 bis 1996 Redakteur und seit 2000 Redaktionsleiter bei 'jetzt' war, in der Berliner Zeitung:

'jetzt' war Rock'n'Roll - mehr als jede Rock'n'Roll-Zeitschrift sein wird. Auf jetzt.de schrieb heute ein Mädchen: 'Wenn 'jetzt' stirbt, stirbt auch ein Teil von mir.' Von mir stirbt mehr als nur ein Teil. Das Ganze eben.