Mord von Staats wegen?

Orhan Pamuk weist der türkischen Regierung die Hauptschuld an der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink zu

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am vergangenen Freitag wurde in Istanbul der prominente armenische Chefredakteur der Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, erschossen. Am vergangenen Dienstag wurde er unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit auf einem armenischen Friedhof in der Stadt am Bosporus beigesetzt: Mehr als 100.000 Menschen erwiesen ihm die letzte Ehre, darunter auch Vertreter des türkischen und des armenischen Staates. Unterdessen wurde der vermutliche Mörder, Ogün Samast, festgenommen, der die Tat bereits gestand. Obwohl die Frage nach dem Täter geklärt scheint, bleiben viele Fragen offen: In den Medien wird über etwaige Hintermänner spekuliert, für fortschrittliche Intellektuelle wie den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamauk liegt die Verantwortung ganz eindeutig beim türkischen Staat sowie dessen nationalistischer Gesetzgebung, mit der seiner Ansicht nach kritische Stimmen wie Hrant Dink diffamiert, kriminalisiert und zur Zielscheibe politischer Fundamentalisten und religiöser Fanatiker gemacht werden.

Hrant Dink wurde 1954 im kurdischen Malatya in eine armenische Familie hinein geboren, die später nach Istanbul übersiedelte. Nach der Trennung seiner Eltern kam er dort in ein armenisches Waisenhaus, in dem er seine spätere Frau Rakel kennen lernte. Er studierte Philosophie und Zoologie und engagierte sich in linken Studentengruppen, nach dem Militärputsch 1980 wurde er deshalb mehrfach verhaftet. Nach dem Studium leitete er mit Rakel ein Ferienheim für Istanbuler Waisenkinder. Mitte der 80er Jahre wurde dieses Heim aus fadenscheinigen Gründen vom türkischen Staat konfisziert - wie damals viele christliche und armenische Besitztümer. So wurde Dink drastisch vor Augen geführt, was es heißt, in der Türkei einer Minderheit anzugehören.

Sein politischer Schwerpunkt verlagerte sich deshalb auf die armenische Frage: Er gründete mit anderen zusammen die Wochenzeitung Agos, in der in zwei Sprachen - armenisch und türkisch - Tabuthemen aufgegriffen wurden. Dass Nicht-Muslimen in dem angeblich säkularen Staat die höhere Beamtenlaufbahn verwehrt bleibt, scheint ein ungeschriebenes Gesetz in der Türkei. Dink traute sich, dies in Agos als sozialen Missstand und Ausgrenzung von Minderheiten anzuprangern. Er setzte sich außerdem u.a. Aleviten und Kurden sowie für die Rechte der Frauen ein.

Völkermord an den Armeniern

Naturgemäß war die Ermordung Hunderttausender Armenier in den Jahren 1894 bis 1922 ein wichtiges Thema für Dink. Damals kollidierte der Unabhängigkeitskampf der armenischen Bevölkerung mit den Bestrebungen, einen homogenen türkischen Nationalstaat zu schaffen. Zu dem Zeitpunkt lebten etwa 2 Millionen Armenier in der Türkei. Vorwiegend in den kurdischen Gebieten, aber auch in der Westtürkei, z. B. in Smyrna, dem heutigen Izmir, und in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, dort stellten sie etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung.

Die neu aufkommende jungtürkische Bewegung wollte einen sprachlichen und kulturell einheitlichen Staat. In dieses Konzept passten die Armenier mit ihrer eigenen Sprache, ihrer eigenen Schrift und vor allem als Christen mit einer anderen Religion nicht. Die folgenden Jahrzehnte lesen sich wie die Kurzfassung der Geschichte der Juden in Europa: Es kam zu Pogromen, die Armenier wurden mit Sondersteuern belegt, was zu einer raschen Verarmung führte, eine Sondermiliz aus Sträflingen und anderen Freiwilligen wurde gegründet und für die Massaker gegen die Armenier eingesetzt, die Kurden wurden gegen die Armenier aufgehetzt und so zu Erfüllungsgehilfen der Vernichtungspolitik der Jungtürken. Die Armenier wurden interniert und an sieben Orten der Türkei gettoisiert, später wurden sie deportiert, ins Wasser getrieben und auf Todesmärsche geschickt. Innenminister Talaat Pascha gab 1915 den Befehl, "alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten". Historiker gehen von 600.000 bis 1,5, Millionen Toten aus.

In den Wirren des Ersten Weltkriegs schlugen viele Armenier sich auf die Seite der russischen Armee und fielen mit ihr später in die Türkei - vor allem in die kurdischen Gebiete, aber auch z.B. in die Region um Trabzon - ein. Sie rächten sich fürchterlich und es gab Zigtausend Tote, Experten sprechen von bis zu 128.000. Später, nach Gründung der Sowjetunion, wurde die Armenische Republik gegründet und ihr schlussendlich angegliedert.

Kemal Atatürk verurteilte den Völkermord an den Armeniern, erließ aber am 31. März 1923 einen Amnestie-Erlass für alle in diesem Zusammenhang verfolgten und angeklagten Personen. Spätere Regierungen leugneten den Genozid komplett. Die blutige Rache der Armenier wird den verbliebenen Armeniern in der Türkei bis heute als Kollektivschuld angelastet und nach offizieller türkischer Lesart gelten nur die Toten auf türkischer Seite als Opfer, die ermordeten Armenier werden bestenfalls als Kollateralschaden betrachtet.

Genozid-Debatte auch in Deutschland

Die Genozid-Debatte mutet prähistorisch an, ist aber hochaktuell, nicht nur in der Türkei, sondern auch in der BRD. So konnte der kurdisch-stämmige Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag, Hakki Keskin, in einem Interview im März 2006 unwidersprochen behaupten, es gebe keine Beweise für einen Völkermord an den Armeniern, sondern nur "Dokumente, die nachweislich gefälscht worden sind". Anfang Januar 2007 sprach Keskin in dem türkischen Massenblatt Hürriyet von einem "Pseudovölkermord", der von einem "armenisch-griechischen Bündnis" instrumentalisiert werde.

Der Zentralrat der Armenier (ZAD) in der Bundesrepublik forderte daraufhin die Linkspartei auf, sich von dem Abgeordneten Keksin zu trennen. Der ZAD ist den Sozialisten eigentlich eher zugetan, weil Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sich auf die Seite der Armenier gestellt hatten. Die maßgeblichen Politiker der Linksfraktion stellten sich hinter Keskin, Oskar Lafontaine mahnte ihn lediglich zur Vorsicht und stellt klar, dass für die Fraktion die Entschließung des Bundestags von 2005 zur Verurteilung des Massenmordes an den Armeniern gelte. Die Abgeordnete Ulla Jelpke schaltete sich in den Disput ein. Ihrer Ansicht nach ist das keine Konflikt, der nur Türken und Armenier betreffe, sondern es gebe auch eine deutsche Verantwortung. Deutsche Militärs, Politiker und Wirtschaftsführer seien in erheblichem Maße in den Völkermord verstrickt gewesen. Ihre Schuld reiche von unterlassener Hilfeleistung bis hin zur aktiven Beihilfe zum Massenmord, so die Abgeordnete laut ZAD.

Türkischer Nationalismus

Ob 600.000 oder 1,5 Millionen Tote, ob Genozid oder Kriegsopfer, das war Dink nicht so wichtig. Fakt war für ihn, dass in der Region, in der einst etwa 2 Millionen Armenier lebten und heute gerade einmal 60-80.000 übrig geblieben sind, die armenische Kultur völlig ausgemerzt und die Besitztümer fast vollständig enteignet wurden. "Wir sind stolz darauf, Türken zu sein", ist die Staatsdoktrin, die allen Schulkindern, egal ob in armenischen Schulen in Istanbul oder im fernen Kurdistan eingetrichtert wird. Dink setzte diesem Nationalismus ein egalitäres Menschenbild entgegen. Das brachte ihm internationale Anerkennung und mehrere Medienpreise ein: So wurde er z.B. 2006 in Hamburg mit dem Henry-Nannen-Preis für "sein Engagement der unterdrückten armenischen Minderheit in der Türkei" sowie "seine Verdienste um die Pressefreiheit" ausgezeichnet.

Sein wichtigstes Anliegen war die Aussöhnung der Armenier mit den Türken. Dazu gehörte für ihn, dass die Türkei endlich ihre historisch Verantwortung für die Massaker an den Armeniern übernehmen solle sowie die armenische Seite "ihr vergiftetes Blut reinige", wie er es nannte. Das wurde von der Politik, den Medien und der breiten Öffentlichkeit genauso als Affront betrachtet, wie die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Orhan Pamuk, der wie Dink öffentlich vom Völkermord an den Armeniern sprach, im Oktober 2006 und die zeitgleiche Entscheidung des Parlaments in Paris, die Leugnung dieses Genozids auf französischem Boden fortan unter Strafe zu stellen. Beides heizte die nationalistische Stimmung ungemein an, die zudem durch den § 301 des türkischen Strafgesetzbuches genährt wird, mit dem die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe gestellt wurde. Dieses Gesetz macht zum einen "das Türkentum" zum Maß aller Dinge - zumindest in der Türkei - und ist zum anderen beliebig anwendbar. Jeder, der öffentlich die Politik der türkischen Regierung kritisiert, kann aufgrund dessen juristisch verfolgt werden. Dink wie Pamuk wurden aufgrund dieses Maulkorberlasses mehrfach vor den Kadi gezehrt, gegen Dink waren noch drei Verfahren anhängig.

Der Nationalismus feiert fröhlich Urständ in der Türkei, und die Medien tun das ihre, die Stimmung anzustacheln: Der Aufruf Dinks an die armenische Seite, ihr "vergiftetes Blut zu reinigen", wurde in der Form überliefert, dass der armenische Journalist gesagt habe, er sei kein Türke, denn die hätten "vergiftetes Blut". Das bekam eigenen Angaben zufolge Ogün Samast in Trabzon an der Schwarzmeerküste zu lesen. Nun rätselt die gesamte türkische Republik, wie der arbeitslose, aus ärmlichen Verhältnissen stammende Samast sich eine Waffe sowie die Fahrt nach Istanbul leisten konnte, um "den Verräter", wie er Dink nannte, umzubringen.

Die Schlüsselfigur in diesem Drama ist indes offensichtlich nicht Samast, sondern ein Mann namens Yasin Halal, dem selbst die faschistische MHP - die Grauen Wölfe - noch zu zahm war und der einer Ideologie anhängt, die aus einem Gebräu von übelstem politischen und religiösen Fundamentalismus besteht. 2004 verübte er einen Anschlag auf die McDonald's-Filiale in Trabzon, um gegen die US-Besatzung im Irak zu protestieren, wie er vor Gericht angab. Obwohl er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, kam er nach wenigen Monaten wieder frei. Seine Zeit soll er damit verbringen, Jugendliche militärisch auszubilden, u.a. Ogün Samast. Dem wurde die "ehrenvolle" Aufgabe übertragen, Dink umzubringen. Jugendliche für solche Attentate zu missbrauchen, ist sehr beliebt in der Türkei, auch bei familiären Ehrenmorden sind es oft die minderjährigen Söhne, die ihre Schwestern ermorden "dürfen". Jugendliche haben ein wesentlich geringeres Strafmaß zu befürchten als Erwachsene, außerdem können sie sich so als der Familie oder einer Organisation "würdig" erweisen, gewissermaßen eine Einführung ins Erwachsenenleben - eine sehr makabre Art von Männlichkeitsritus.

Unterdessen kritisierte Orhan Pamuk die türkische Regierung scharf. Gegen Dink sei eine Kampagne in Gang gesetzt, der Journalist zum "Feind der Türken" ausgerufen und zur Zielscheibe für den Mordanschlag gemacht worden. Ministerpräsident Tayip Recep Erdogan ordnete inzwischen Polizeischutz für alle diejenigen an, gegen die aufgrund des § 301 ermittelt wird. Mit dieser paradoxen Maßnahme will er offenbar der Geister Herr werden, die er selber rief.

Hrant Dink wurde gestern in Istanbul beigesetzt. Mehr als 100.000 Menschen, manche sprechen auch von 200.000, erwiesen ihm bei einem Trauermarsch die letzte Ehre. Das war die größte Begräbnisfeier, die es am Bosporus jemals gegeben hat. Die meisten türkischen Regierungsmitglieder und Politiker blieben ihr jedoch fern. In Hamburg fand am vergangenen Montag ebenfalls ein Trauermarsch zu Ehren Dinks statt, der von armenischen, kurdischen und türkischen Organisationen initiiert wurde und an dem sich mehr als 500 Menschen beteiligten. Beide Märsche standen unter der Losung "Wir sind alle Hrant Dink", bzw., "Wir sind alle Armenier", ansonsten waren politische Parolen unerwünscht, denn Rakel Dink hatte darum gebeten, das Begräbnis ihres Mannes nicht zu einer politischen Manifestation umzufunktionieren.