Motassadeq zum Zweiten

Hamburg: Mit einer Vorverurteilung in den Medien und der vorgezogenen Vernehmung einer Zeugin begann die Wiederholung des Prozesses gegen Mounir El Motassadeq - knapp einen Monat vor der offiziellen Eröffnung des Verfahrens

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Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, so auch die Neuauflage des weltweit ersten Prozesses im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York. Offiziell beginnt das Verfahren am 10. August vor dem Hamburger Oberlandesgericht (OLG), doch schon jetzt haben Medien und Politiker das Urteil gefällt: Der Angeklagte ist ein "Top-Terrorist" und soll nach Ende des Verfahrens abgeschoben werden - egal, wie der Prozess ausgeht.

Motassadeq musste sich ab dem 22. Oktober 2002 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen vor dem OLG verantworten. Am 19. Februar 2003 wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt, der Bundesgerichtshof (BGH) hob dieses Urteil am 4. März 2004 jedoch wieder auf und verwies das Verfahren erneut an das Hamburger OLG (Grenzen der Wahrheitsfindung).

Vergangene Woche wurde die erste Zeugin im Zusammenhang mit dem zweiten Motassadeq-Prozess vernommen. Medienberichten zufolge wollte die Frau Angaben über die "Radikalisierung" der Studentengruppe um Mohammed Atta machen. Da sie die BRD bald verlässt, wurde ihre Vernehmung dem eigentlichen Prozess vorgeschoben. Das Verfahren wird sich vermutlich über Monate hinziehen, die Kammer hat Termine bis in den Januar hinein festgesetzt.

Dieser Tage wurden Motassadeq und dem Angeklagten aus dem zweiten Hamburger Al-Quaida-Prozess, Abdelghani Mzoudi, die Ausweisungsbescheide der Hamburger Ausländerbehörde zugestellt. Angeblich stellen die beiden eine "Gefährdung der freiheitlich- demokratischen Grundordnung" dar. Mzoudi war am 5. Februar aus Mangel an Beweisen von denselben Vorwürfen wie Motassadeq frei gesprochen worden (An die Grenzen der Wahrheitsfindung gestoßen). Die Staatsanwaltschaft legte Berufung gegen dieses Urteil ein, die Entscheidung des BGH steht noch aus.

Schon am 12. September 2001 begannen die Ermittlungen gegen die so genannte "Hamburger Zelle". Diese soll aus Mohammed Atta, den beiden weiteren vermutlichen Todespiloten Ziad Samir Jarrah und Marwan Al Shehhi, dem inzwischen vermutlich in den USA inhaftierten Ranzi Binalshib, dem noch flüchtigen Said Bahaji, der als einer der Hauptorganisatoren der Anschläge gilt, sowie Motassadeq und Mzoudi bestanden, den Anschlag geplant und ausgeführt haben.

Außer Motassadeq und Mzoudi überlebten Bahaji und Binalshib den 11. September 2001. Letzterer wurde im September 2002 angeblich von den US-amerikanischen Fahndungsbehörden verhaftet (Wie ein schlechter Krimi). Doch niemand weiß, wohin er gebracht wurde und welche Erkenntnisse bei dessen Verhöre durch die US-amerikanischen Behörden gewonnen wurden. Die USA erlaubten weder Binalshib in den beiden Prozessen in Hamburg auszusagen, noch ihn in den USA vernehmen zu lassen, noch die Verhörprotokolle der Befragungen durch US-Behörden in die Verfahren einzuführen. Das führte dazu, dass Mzoudi aus Mangel an Beweisen frei gesprochen und das Motassadeq-Urteil vom BGH wieder aufgehoben wurde (Das geplatzte "Geständnis".

Alle Beteiligten spekulieren jetzt darauf, dass die USA ihre Zustimmung dazu geben, die Binalshib-Protokolle in diesem neuen Verfahren zu verwenden. Die Bundesanwaltschaft hofft, damit die Schuld Motassadeqs und Mzoudis zweifelsfrei nachweisen zu können. Deren Anwälte hingegen gehen davon aus, dass dadurch die Unschuld ihrer Mandanten verlässlich bewiesen werden könne.

Unterdessen kündigte die Hamburger Ausländerbehörde an, die beiden in jedem Fall auszuweisen - unabhängig vom Ausgang der Prozesse. Der Hamburger Innensenator Udo Nagel (parteilos) glaubt, beweisen zu können, dass Motassadeq und Mzoudi mit dem "internationalen Terrorismus" in Zusammenhang gebracht werden können. Dabei folgt er der Argumentation, mit der die Bundesanwaltschaft deren Beteiligung bei den Planungen der Anschläge konstruierte: Beide waren in einem Al-Qaida-Lager in Afghanistan, beteten in derselben Moschee wie Atta, unterschrieben 1996 das Testament des vermutlichen Todespiloten und waren auf Bahajis Hochzeit mit dessen Frau Nese zu Gast.

Die Anwälte der beiden Marokkaner legten Widerspruch gegen die Ausweisungsbescheide ein. In einem vermutlich Jahre andauernden Rechtsstreit wird sich dann zeigen, ob die zuständigen Gerichte sich Nagels Logik zu eigen machen. - oder ob sie es halten wie Klaus Rühle, Vorsitzender Richter im Mzoudi-Prozess: in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten.