Musik im Mai

Die monatliche Kolumne

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Sechziger Jahre:
Bob Dylan - Desolation Row von 1965 auf "Highway 61 Revisited"

Was kann man über den Mann aus Duluth im US-Staat Minnesota, der mit bürgerlichen Namen Robert Allen Zimmerman heißt und sich später den Künstlernamen Bob Dylan zulegte, noch sagen? Im Prinzip ist alles gesagt und erzählt. Von anderen, aber auch von ihm selbst. Längst ist er zum Objekt gelehriger Abhandlungen, ambitionierter Seminare und kulturwissenschaftlicher Tagungen geworden, wo mehr oder weniger versucht wird, ihm noch die letzten Geheimnisse seiner Pop-Poesie zu entreißen. Es ist anzunehmen, dass der dermaßen Analysierte sich beizeiten über diese Anstrengungen köstlich amüsiert hat. Andererseits, geehrt und geadelt gefühlt hat er sich darüber vielleicht auch.

Am 24. des Monats feiert Dylan, man mag es kaum glauben, seinen 70. Geburtstag. Noch immer ist er auf Tour. Manche meinen sogar, auf einer never ending tour. Im Juni auch hierzulande. Die Gratulanten drängeln schon, die Lobhudeleien dafür liegen längst fertig in den Schubladen der Redaktionen.

Uns hat an Dylan immer weniger der Folk- und Protestsänger interessiert, der Nachfahre und Erbe von Pete Seeger und Woody Guthrie, der angeblich Sprachrohr der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gewesen ist und ihr Stimme, Namen und Gesicht verliehen hat. Ebenso der Verwandlungskünstler nicht, der Songs für Werbezwecke zur Verfügung stellte, der eine Zeitlang dem Religiösen verfiel oder der Kompromisse mit autokratischen Systemen schloss, um auftreten zu dürfen.

Darum konnten wir auch die Aufregung nicht verstehen, die unlängst um seine Reise ins Reich der Mitte gemacht worden ist. Ist es wirklich musikalisch so bedeutsam, ob er die Werte des Westens nun schamlos verraten hat (Blowin’ in the Idiot Wind, The times they are a-censored: Bob Dylan makes first appearance in China oder die Herrschenden doch noch ausgetrickst hat (Kritik an Bob Dylans protestlosem Konzert)?

Allein das mediale Gerangel um diese Fußnote (Why Bob Dylan didn't make a fuss in China) zeigt, dass Indolenz, die der engagierte Teil seiner Fans ihm schon vor fünfundvierzig Jahren entgegengebracht hat, bis heute andauert.

Auch oder gerade deswegen haben wir den Rockmusiker stets mehr geschätzt, den Geschichtenerzähler und eigensinnigen Trotzkopf, der 1965 dem Solipsismus ade sagte, seine Gitarre elektrisch verstärkte und mit anderen zusammen Musik machte. In diesem Wendejahr brachte der "Meister" in einem sagenhaften Anfall von Produktivität in kurzer Folge drei grandiose Alben heraus, die zu Recht Rockgeschichte geschrieben haben. Neben "Bringing It All Back Home" und "Highway 61 Revisited" auch noch "Blonde On Blonde", jenes Doppelpack, das vermutlich die beste Songlistung enthält, die der Sänger jemals auf Platte gepresst hat.

Anders als Klaus Theweleit, der in seinem Lesebuch How does it feel Dylans "Elektrifizierung" noch mal als mentale oder musikalische Verirrung deutet, betrachten wir Dylans Absage an Folk und Protest zugunsten der Öffnung für Rock, Blues und Country als eine Art Befreiungsschlag. Wetten, dass der "Meister" selbst es ganz genauso sieht?

Wer anderer Meinung ist, der sollte sich mal die Zeit nehmen, sich an einem Abend bei einem Bierchen oder einer guten Flasche Rotwein die drei Werke gesammelt am Stück in Ruhe anzuhören. Vielleicht kann er sich unserem Urteil ja dann anschließen. Als Einstieg empfehlen wir den Song "Desolation Row", der irgendwie diesen "tipping point" markiert und Dylan bereits als überaus ambitionierten Songschreiber ausweist, der die Nähe zum Surrealen sucht. Was später zu der immer wieder mal erhobenen Forderung geführt hat, ihm den Literaturnobelpreis zu verleihen.

Mehrfach wurde der Song gecovert, nicht nur von Amateuren, sondern auch von namhaften Größen wie etwa den Grateful Dead oder von My Chemical Romance. Und kulturwissenschaftlich analysiert und ausgedeutet wurde er bestimmt ebenso oft. Da von Dylan nur ganz wenige Originaltitel im Netz zu finden sind, er oder seine Rechtsabteilung offenbar vehement gegen alle Urheberverletzer vorgeht, können wir leider nur die Interpretation der Grateful Deal bieten, mit denen der "Meister" aber höchstselbst damals schon des Öfteren gejammt hat.

Siebziger Jahre:
Santana - Song Of the Wind von 1972 auf "Caravanserai"

Anfang der Siebziger traf Carlos Santana mit Sri Chinmoy zusammen. Eine Begegnung, die schicksalhaft wurde, für ihn und sein musikalisches Schaffen. Der aus Indien in die USA eingewanderte Guru, der damals auch John McLaughlin zu seinen "Kunden" zählte, machte den Bandleader mit fernöstlicher Meditationspraxis, mit Yoga und Spiritualität bekannt.

Von da ab entsagte der gebürtige Mexikaner, der in San Francisco aufgewachsen war, allen irdischen Genüssen und rauschhaften Exzessen, denen er vorher reichlich zugetan war. Für eine Weile trat er nur noch in weißen Gewändern auf und versorgte sein Publikum mit spirituellen Botschaften. Zeitgleich änderte er auch seinen Musikstil. Statt lateinamerikanischer Rhythmen bevorzugte er jetzt einen eher loungig-jazzigen Stil.

Davor war er als einer der großen Gewinner des Woodstock Festivals aufgefallen. Zunächst durch Sohl Sacrifice, einen Percussion lastigen Song, den die Produzenten des gleichnamigen Films und Soundtracks auf Zelluloid und Vinyl "brannten"; später mit Black Magic Woman, einer Nummer von Peter Green, und Samba Pa Ti, Songs, die seither weder in einem Classic-Rock-Special noch auf einem Kuschelrock-Album fehlen dürfen.

Die Zusammenkunft mit dem indischen Guru leitete Santanas musikalisch anspruchsvollste Phase seiner Karriere ein. Doch nicht alles, was er während dieser Jahre produzierte, überzeugte wirklich. Das Prädikat "außergewöhnlich" trifft eigentlich nur auf "Caravanserai" zu. Und mit Abstrichen vielleicht noch für das gemeinsam mit John McLaughlin und seinem Mahavishnu Orchestra verfasste Love, Devotion & Surrender.

Von den danach im selben spirituellen Geist produzierten Alben "Welcome" und "Barboletta" kann man das beileibe nicht sagen. Da hatte der Gitarrenvirtuose sein spirituelles Pulver schon verschossen. Was dann folgte war eine fast zwanzig Jahre dauernde "Kunstpause", bevor ihm kurz vor der Jahrtausendwende mit "Supernatural" und dem Hit Maria, Maria ein unerwartetes, aber mit Preisen überhäuftes Comeback gelang.

Vor allem die A-Seite von "Caravanserai" ist phänomenal und einzigartig. Sie beginnt mit Grillenzirpen, dem ein laut klagendes Saxophon-Solo folgt. Dann heben wellenartig die Gitarrenklänge an, die allmählich von der Percussion übermalt werden und sie zu funkigen Rhythmen zwingen, eher dann Melodie und Gesang den Faden aufnehmen. Selten ist es einem Rockmusiker gelungen, Titel, Cover und Sound so in Einklang zu bringen. Man spürt förmlich Wüste und Sonne, fühlt und sieht sich dorthin versetzt und im Traum die Karawane vorbeiziehen. Und das auch ohne die sonst dafür nötigen Enhancer.

Unser Anspieltipp Song of the Wind ist Track fünf auf dem Album. Virtuos demonstriert Carlos Santana sein Können und sein einfühlsames Spielvermögen auf dem Saiteninstrument.

Achtziger Jahre:
Fehlfarben - Paul ist tot von 1980 auf "Monarchie und Alltag"

Das waren vielleicht wilde Jahre, damals, vor mehr als dreißig Jahren. In Berlin und Hamburg besetzten Jugendliche leere Häuser und in den Uni-Seminaren schwadronierte man statt über "Dialektik der Aufklärung" und "Diskurstheorie" über die "Mikrophysik der Macht" und den "Anti-Ödipus"; Böll, Jens und Co hockten vor Mutlangen im stillen Protest und im Bonner Hofgarten protestierten 300 000 Leute gegen die atomare Nachrüstung; die Kids wiederum machten in No-Future, während die Intellektuellen die Geschichte, die Emanzipation und die Moderne ihrem postmodernen Ende entgegentaumeln sahen.

Kurz davor war auf der britischen Insel das Punk- und Ska-Fieber ausgebrochen. Von diesem Virus ließen sich deutsche Musiker anstecken. Unter ihnen auch der Sänger Peter Hein. Nach einem Kurzaufenthalt auf der Insel gründete er kurz entschlossen mit diversen anderen Musikern die Band Fehlfarben. Jürgen Teipel hat in seinem Doku-Bericht alle diese netten Min-Geschichten für die Nachwelt aufgeschrieben und festgehalten.

Zu jener Zeit kannte man all die politischen Korrektheiten noch nicht, die unsere Zeit moralisch so aufplustern und eine bestimmte Sorte von Leuten zum ständigen Hyperventilieren bringt. Weder in den Medien noch im Alltag oder gar im Rock und Pop. Da konnte man noch ganz unbefangen Stile, Moden und Ideologien kreuzen, linke mit rechten, Nazi- mit Kommunisten-Symbole, man konnte sie ästhetisch verfremden oder sogar umcodieren, ohne Gefahr zu laufen, öffentlich zur persona non grata erklärt zu werden.

Da gab es auch noch keine selbsternannten Blockwarte, analoge oder digitale, die öffentliche Äußerungen auf versteckte Provokationen, heimliche Beschimpfungen oder verkappte Bösartigkeiten abkloppten oder in fremden Doktorarbeiten herumschnüffelten. Und sicherlich wäre damals auch niemand auf die närrische Idee gekommen, missliebige Begriffe, man denke an Mark Twains "Tom Sawyer", durch "hübschere" Bezeichnungen zu ersetzen. Peter Hein wäre vermutlich "sozial tot", würde er heute auf die Frage, warum er dem Ska-Sound damals abschwor, antworten, er habe keinen Sinn darin gesehen, "die Neger nachzumachen".

Wer jüngst über Sarrazin, über Türken- bzw. Hartz IV-Bashing und "Deutschland schafft sich ab" mitgewütet hat, der sollte sich mal fragen, ob er vielleicht nicht selbst vor bald dreißig Jahren Ähnliches auf Konzerten noch mitgegrölt hat. In Millitürk jedenfalls wiederholt Peter Hein voller Zorn und in voller Inbrunst jene zweideutigen Sätze des D.A.F. Songs Kebabträume:

Kebabträume in der Mauerstadt,
Türk-Kültür hinter Stacheldraht
Neu-Izmir ist in der DDR,
Atatürk der neue Herr.
Miliyet für die Sowjetunion,
In jeder Imbissstube ein Spion.
Im ZK Agent aus Türkei,
Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei.

Wir sind die Türken von morgen.
Wir sind die Türken von morgen...

"Monarchie und Alltag" gehört sicherlich zu den besten und einflussreichsten Platten der deutschen Rockgeschichte. Nach Peter Heins abruptem Ausstieg und beruflichen Einstieg beim Kopierer Xerox sank das Interesse an Fehlfarben schlagartig. Die danach folgenden Platten boten nur noch Mittelmäßiges. Das Comeback, das Peter Hein nach der Jahrtausendwende mit der Band feierte, wurde von der Öffentlichkeit zwar wohlwollend begleitet und registriert.

Auch waren Wut und Elan durchaus noch spürbar. Doch von der jugendlichen Ungestümtheit und Sprengkraft, die "Monarchie und Alltag" einst erzeugt und ausgelöst hatte, war weder in Knietief in Dispo noch auf Handbuch für die Welt oder zuletzt gar bei Glücksmaschinen viel zu merken. Man kann eben nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Erstens ist das Wasser ein anderes, und zweitens ist der Badende ein anderer geworden.

Ausgesucht haben wir Paul ist tot, den musikalisch sicher anspruchvollsten Song auf dem Album. Auch, weil die Zeile: "Was ich haben will, das krieg ich nicht / Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht" die emotional wirre und damageartige Zeit (und nicht nur diese) passend in Gedanken fasst.

Neunziger Jahre:
Pearl Jam - Alice auf "Ten" (1991)

Wut und Zorn hat es zu allen Zeiten und an allen Orten gegeben. Am geschichtsträchtigsten sind wohl die Gefühlswallungen des Achill im Gedächtnis geblieben, der in einer beispiellosen Wutanfall über den Tod eines geliebten Freundes Patroklos den trojanischen Helden Hektor nicht nur getötet, sondern ihn auch noch, das Totenritual missachtend, um die ganze Stadt geschleift hat. Erst die Fürbitten des Vaters konnten ihn besänftigen und veranlassen, den Leichnam des derart Geschändeten zur Todesbestattung wieder herauszurücken.

Achills Geschichte signalisiert die zwei Seiten des Zorns. Einerseits spendet er Kraft und kann produktiv wirken, andererseits verblendet er und verführt den Zornigen oft zu Dummheiten. Auf diesem zweischneidigen Schwert balanciert gegenwärtig auch der engagierte Wutbürger. Im emotionalen Ausnahmezustand übersieht er häufig und nur allzu bereitwillig die Tragweite seines Tuns.

Ähnliches kennzeichnet auch den "Grunge", jene Kreuzung aus Punk und Metal, der Anfang der Neunziger rund um Seattle entstand. In seinem Windschatten wurde eine ganze Armada neuer Rockbands an die Oberfläche gespült, die vor allem dreierlei vereinte: Spaß an unsauber verzerrten Gitarrenklängen, gepaart mit extrem übersteuerten Rückkopplungen; Herausbrüllen der ganzen emotionalen Last, die sich über die Jahre aufgestaut hatte; Gefallen an einem bewusst schmuddeligen und lässig zur Schau getragenen Dresscode.

Zu den Wortführern dieses Subgenres des Rock zählte neben Nirvana auch Pearl Jam. Sie können als die letzte der großen Grunge-Bands angesehen werden, die den damaligen Hype überlebt und danach auch noch laufend Platten produziert haben. Am ideologischen Widerspruch, der den "Schmuddelrock" von Anfang an prägte und durchzog, konnten auch sie nichts ändern.

Mit Erfolg, Popularität und dem medialen Rummel, der vor allem nach Kurt Cobains Selbstmord um sie einsetzte, konnte die Band genauso wenig umgehen wie ihre Zeitgenossen. Zu hoch war häufig der moralische Anspruch an sich selbst. Immer wieder rieb man sich an den Spielregeln der Branche. Man verkrachte sich mit Konzertveranstaltern, legte sich mit Musiksendern und Videoproduzenten an und zog sich beizeiten in die musikalische Schmollecke zurück. Gleichwohl wollte man sich sozial engagieren und für politische Themen und Stimmungen Partei ergreifen.

Auf neun ordentliche Platten hat es Pearl Jam bislang gebracht, sieht man von diversen Bootlegs, Best of und Livemitschnitten mal ab. Im September will der Regisseur Cameron Crowe die ultimative Banddoku zum zwanzigjährigen Bestehen der Band vorlegen, die er aus dem gesamten Archivmaterial der Band kompiliert hat. Die Fans dürfen sich schon jetzt darauf freuen.

Das Beste von allen neun ist und bleibt sicherlich das Debüt. Benannt ist es nach der Rückennummer des Basketballers der Atlanta Hawks Mookie Blaylock. Ausgewählt haben wir Alice, Pearl Jam’s erster Singleerfolg, den Eddie Vedder textete und besang, auch und vor allem wegen des grandios ausufernden Gitarrensolos am Schluss.

Nullerjahre:
The Hives - Hate To Say I Told You So von 2000 auf "Veni, Vidi, Vicious"

Dass auch die ach so kühlen Schweden beherzt rocken können, und nicht bloß Zuckerwatten-Pop produzieren, bewies um die Jahrtausendwende die Musik-Combo The Hives. Gleich auf ihrem Erstling schien es, als ob sie die alte Rock’n’Roll-Weisheit, wonach ein guter Song nicht mehr als zwei Minuten dauern darf, um alles zu sagen, nochmals unterbieten wollten.

Auf "Barely Legal" dauern die Songs mitunter gerade mal eine höchstens eineinhalb Minuten. Diese Strategie änderten sie auf "Veni, Vidi, Vicious" nur geringfügig. Erst nach ihrem Deal mit einer großen Plattenfirma weitete die Band ihre Songs auf maximal drei Minuten und etwas darüber aus.

Wenn der Garagenrock, der die so genannten The-Bands hervorbrachte, als Retro bezeichnet werden kann, dann sind The Hives die Retro-Band schlechthin. Zu keiner Zeit ließen sie Zweifel aufkommen, dass sie die fünfziger und sechziger Jahre revitalisieren wollten. Von Anfang an achtete die Band auf ein stil- und modebewusstes Äußeres. Um sich von anderen Bands abzuheben, trugen sie, ähnlich den Combos der damaligen Zeit, makellos gebügelte Anzüge und Hemden, vorwiegend in schwarz und weiß, und je nach Laune, Fliegen, Hosenträger und Gamaschen.

Kennzeichen ihres garagigen Punkrocks sind straighte Nummern mit eingängigen Song- und Soundstrukturen, die sie ungeschliffener, roher und ungestümer präsentierten als alle anderen. Kein Wunder, dass The Hives im Sommer 2006 von einem amerikanischen Musikmagazin zur"weltweit beste Live-Band" gekürt wurden. Wer sie während dieser Jahre mal live erlebt hat, wird dieses Urteil nur bestätigen können.

Großen Anteil an dieser Auszeichnung hat gewiss ihr Sänger Pelle Almqvist. Ihn zeichnet nicht nur eine hohe Entertainer-Kunst aus, er beweist mit seinem überdrehten Gesangstil jedes Mal aufs Neue, dass ADHS statt mit Medikamenten auch mit krachendem Punk-Rock bekämpft werde kann.

Unser Tipp: Hate To Say I Told You So stammt vom zweiten Album "Veni, Vidi, Vicious"

Album des Monats April:
Foo Fighters - Wasting Light

April ist bekanntlich der Monat mit den abrupten Wetterwechseln. Genauso wankelmütig präsentierte sich auch der Pop- und Rockmarkt. Glasvegas, jene vier Schotten aus Glasgow, die vor Jahren vom Oasis-Entdecker als next big thing angekündigt wurden und ihr Deutschland-Debüt als deren Support hatten, präsentierten ihren Nachfolger, gespickt mit vielen überladenen Soundteppichen. Hauptverantwortlich dafür ist Flood, der schon U2 überproduziert hat. Diesmal sorgt er dafür, dass etliche gute Ideen und Melodien, Elend und Herzschmerz im Soundquark ertränkt werden. Kann man hören, muss man aber nicht.

Auch die Gorillaz, ambitioniertes Edelprojekt des ehemaligen Blur-Masterminds Damon Albarn, TV On The Radio, die Rockavantgardisten aus Brooklyn, und die Fleet Foxes, die Klone von Crosby, Stills & Nash, den Beach Boys oder den Byrds, haben Neues im Programm. Wer auf Altmodisches, Flanellhemden und mehrstimmige Choräle steht, wer Verschrobenes und plötzliche Stilwechsel mag, und wer Experimentellem, Dissonantem und Eigenbrötlerischem nicht abgeneigt ist und all das vielleicht noch für gute Rockmusik hält, der wird hier gut bedient.

Unsere Ohren haben sich über all die Jahre daran etwas müde gehört. Der Tag ist anstrengend, und Kreativität ist auch nicht alles. Schroffes, Schräges und Anspruchvolles muss beizeiten auch grooven können. Und das tut es irgendwie nicht so richtig. Warum soll man sich den Abend oder das Workout noch mit sperrigen Beats, Knabenchören und verschlungenen Songlines vermiesen lassen. Das überlassen wir dann doch lieber "begnadeteren" Popkritikern und Feuilletonisten, die alles Seltsame grundsätzlich für einzigartig, hörenswert und wichtig halten.

Gleiches gilt für die gerade heftig gefeierten Österreicher, die in Berlin leben und auf den komischen Namen Ja, Panik hören. Es erschließt sich uns nicht, warum man die Pennäler-Wut, die sich da zwischen den Zeilen austobt, für popkulturell relevant hält (Wie anti darf Pop sein?).

Wer braucht denn noch den Protestsong? Zumal das ganze Land von einer Empörung in die nächste zu fallen scheint und vor lauter Wut über die da oben das Nachdenken vergisst. Dienen die politischen Parolen und markigen Worte nicht oft nur dazu, die miese Musik, die dazu gemacht wird, zu verbergen? Fehlfarben (siehe oben) und D.A.F. haben das vor dreißig Jahren viel besser gemacht. Und Blumfeld und Tocotronic auch. Doch seitdem auch die sich davon verabschiedet haben, ist das Wutgenre diskurspolitisch nur noch "Schall und Wahn".

So bleibt, um den April nicht doch zur Leerstelle zu machen, als Alternative nur das siebte Album der Foo Fighters. Mit dem Makel des "Konsensrock", der an dieser Stelle freilich laut wird, können wir gut leben. Zwar haben wir uns nie recht um David Grohl und seine Leute geschert. So wie Nirvana hielten wir auch sie für überschätzt. Dazu haben wir, einem alten Rock-Klischee allzu leichtfertig folgend, das lange Zeit für weißen Halbstarken-Rock gehalten.

"Wasting Light" räumt mit diesem Vorurteil aber auf. Das Album versprüht durchaus Authentisches. Es verzichtet auf soundtechnische Frickeleien, auf modische Synthies ebenso wie auf Echos und Hall-Effekte. Grohl hat die Kollegen, darunter den ehemaligen Nirvana-Bassisten Krist Novoselic, einfach in seine heimische, zum Aufnahmestudio umfunktionierte Garage gelockt, sie ihre Instrumente auspacken lassen und Butch Vig, den Aufnahmeleiter von Nevermind, dazu gebeten. Herausgekommen ist ein prima Rockalbum, das pure Spielfreude vermittelt und erfreulich unkompliziert daherkommt.

Unser Anspieltipps Dear Rosemary ist der dritte Track auf "Wasting Light". Die Band war so freundlich, gleich den ganzen Soundtrack ins Netz zu stellen. Bravo!

Enttäuschung des Monats April:
The Wombats - "This Modern Glitch"

Was waren das noch für Kracher, die die drei Liverpooler auf ihrem Erstling "A Guide to Love, Loss & Desperation" packten. Mit Backfire At The Disco, Let’s Dance To Joy Division, Moving To New York oder auch My First Wedding, unser persönlicher Favorit und zugleich Co-Kommentar zur Vermählung des Jahres, lieferten The Wombats herzerfrischenden Gitarren-Rock, der mit euphorisch gesungenen Refrains und witzig-amüsanten Texten über den Alltag britischer Kids daherkam. Immer wieder hatte Tord Øverland-Knudsen dabei seinen Bass zum Soloinstrument gemacht, mit der er den treibenden Gitarrenbeats seines Kollegen und Sängers Matthew Murphy eine wuchtige und eigenständige Songlinie hinzufügte.

Vollkommen neu und taufrisch war das selbstverständlich nicht, was die Wombats, benannt nach einem australischen Beuteltier, da vor vier Jahren vorgelegt hatten. Der hüpfenden Gitarrenrock oder auch der Mitgröl-Rock waren etwa von Franz Ferdinand oder den Kaiser Chiefs schon geebnet und breit ausgewalzt. Aber mit A-cappella Gesang, prächtigen Hooklines und hinreißenden Melodien gaben sie den Songs nicht nur eine eigene Duftmarke, sondern sorgten auf für gute Stimmung und Laune für das Partyvolk.

Auf ihrem Nachfolgeprodukt, das gerade auf dem Markt ist, ersetzen sie die Gitarren durch grellen Elektrosound. Das Ungestüme, Wilde und Rebellische, das in den Songs davor noch zu hören war, opfern sie jetzt dem Eingängen, Glatten und ausnahmslos Poppigen. Wer immer diesen Floh ihnen ins Ohr gesetzt und ihnen diesen Dancehall-Stil verpasst hat, der gehört "gesteinigt". Nichts gegen Synthies, die sind ja gerade ziemlich angesagt, solange sie passen oder dezent eingesetzt werden. Und nichts gegen Radiotauglichkeit. Doch ihr zuliebe muss man nicht gleich ein ganzes Soundprodukt opfern.

Natürlich gibt es auch viel Nettes auf dem Album, prima Melodien, gängige Refrains. Nach wie vor wird ein hohes Lob auf die Jugend gesungen, auf die selbstbezogene, partygeile und von Narreteien erfüllte. Und diverse Songs mit vielen "Woohs" und "Hoohs" haben durchaus Hitpotential. Tokyo (Wolves and Vampires), die Vorabsingle, zählt gewiss dazu. Auch Girls/Fast Cars und vor allem die Synthie-Pop-Nummer Walking Desasters entwickeln sich zu Ohrwürmern und bieten tanzbaren Indie-Pop zum Mitgrölen.

Leider kommen nur noch manchmal die Gitarren zur vollen Entfaltung, etwa auf der mit viel Pathos und Melancholie aufgepeppten Hymne 1996. Nur: braucht es wirklich Streicher oder ganzer Orchesterchöre wie auf Anti-D? So lässt sich die Depression jedenfalls nicht vertreiben.

Übel des Monats April:
BAP - Half su wild

Ehrlich gefragt, wer braucht eigentlich noch eine weitere BAP-Platte? Die Damen und Herren rund um Köln vielleicht? Oder die Alt-Vorderen, die schon in Brokdorf, Wackersdorf am Zaun gerüttelt oder im Bonner Hofgarten gegen AKWs und NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben und zu Verdamp lang her und zu Kristallnaach mitgeplärrt, -gestampft und -geklatscht haben. Aber wer sonst?

Gut, Wolfgang Niedecken ist gerade 60 geworden und hat gleich noch seine Autobiografie (Für’ne Moment) vorgelegt. Für manchen Journalisten war dies Anlass, den kölschen Jung nicht nur richtig hochleben zu lassen, sondern den Sänger und Texter gar zum "subversiven Element" der alten Bundesrepublik hochzuschreiben (Wie Niedecken zum "subversiven Element" wurde). Eine seltsame Subversion muss das gewesen sein muss, wenn der Bundespräsident ihm vor dreizehn Jahren dafür das Bundesverdienstkreuz verliehen hat und der neue ihn als Botschafter quasi mit auf Auslandsreisen nimmt.

Zwar hat Niedecken sich während der Jahre immer wieder mal neu orientiert. Er hat sich etwa seiner Studienjahre erinnert, und, wie so manch anderer Rocker (siehe Bryan Adams), sein Maler- und Künstlerherz wieder entdeckt. Gleichwohl ist er sich aber auch treu geblieben, er ist der zornige, zu jeder Einmischung bereite Bürger und Sänger geblieben, der sich mal zu Diesem, mal zu Jenem äußert, ohne für die Probleme jemals Lösungsvorschläge parat zu haben.

Musikalisch hat Niedecken in all den Jahren sein Spektrum aber weder erweitert noch verfeinert. Wer in sein neues Werk hineinhört, wird das Gefühl nicht los, dass sein Musikgeschmack dreißig Jahre lang im Eisschrank gelegen sein muss. Immer noch dominiert der stampfende Rhythmus, immer noch biedert er sich dem Mitklatsch-Publikum an, und immer noch wärmt er das Herz aller Bewegten mit volkstümlich daherkommenden Balladen.

BAP und Niedecken klingen mit oder ohne den Major auch dreißig Jahre später wie schlechte Kopien von Bob Dylan, Bruce Springsteen oder den Rolling Stones. Vermutlich muss man F.A.Z.-Redakteur sein, um dem was abgewinnen zu können (Heimkehr in die Fremde). Wie man allerdings darauf kommen kann, Niedeckens Rock für den "einzig noch möglichen nach Dylan und den Stones" zu halten, wird ewig ein Geheimnis bleiben. Wie musikalisch kleinkariert muss man sein, um einen so abstrusen Gedanken zu äußern.

Über all die Jahre ist Wolfgang Niedecken ein Troubadour geblieben, eine kölsche Ausgabe von Wolfgang Ambros, der auch gern Dylan-Songs zum Besten gab. Anders als der Wiener Sänger kehrt der Kölner bei jeder Gelegenheit gern sein Innerstes nach Außen. Er outet sich öffentlich als Missbrauchsopfer und gibt beizeiten wie Bono oder Bob Geldorf den "Weltenretter", der mit Sozialarbeiter-Kitsch im Rucksack auf Reisen geht.

Auf dem neuen Album ergeht es Niedecken letztlich so wie seinem geliebten FC Köln. In Woröm Dunn Ich Mir Dat Eijentlich Ahn? stimmt er einen Abgesang auf die Kölner Kicker und ihre Fans an, die in dieser Spielzeit vom niederrheinischen Nachbarn zweimal (4:0 und 5:1) eins auf die Mütze bekommen haben. Es spricht viel dafür, dass sie sich mit den Gladbachern nächste Saison erneut zum Derby treffen. Diesmal allerdings in Liga zwei.

Das, was Möchtegern-Rocker da über den Größenwahn, die Selbstverliebtheit und die Selbstüberschätzung der FC-Vereinsführung, der Kölner Fans und ihrer Kicker singt, könnte auch für ihn und sein neues Produkt gelten:

Zweite Halbzeit / kurz vor Schluss / war wohl wieder nix

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