Musikalisches Doping muss keine Sünde sein

Mit ihrem neuen Album "Wanderland" übertrifft sich Kelis selbst und sprengt alle Genres

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Als Kelis vor der Jahrhundertwende mit "Kaleidoscope" die Charts stürmte, gab es kaum jemanden, der nicht mitgerissen worden wäre. Kritiker griffen zu ihren feinsten Federn und texteten um die Wette: Mit ihren Songs schien Kelis nicht nur die Freude an der Musik an sich neu geweckt zu haben, sondern auch am Leben. Sie war große Hoffnung, ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung meinte in ihrem Rhythm & Blues sogar den Punk von heute zu hören.

Nach knapp zwei Jahren Abwesenheit ist Kelis wieder da und hat alle Erwartungen vielleicht sogar übertroffen. Langsam hat sie sich an die aktuelle Musiklandschaft herangepirscht, so langsam, dass man fast meinte in der Zwischenzeit an Entzugserscheinungen zu erkranken. Denn kaum ein anderer Künstler hatte es in den letzten Jahren geschafft, derart mühelos Einfallsreichtum, Orginalität und Zugänglichkeit mit natürlicher Sexyness zu verbinden. Ohne die Öffentlichkeit mit Produkten, Auftritten und Nachrichten/Gerüchten über sich selbst überfüttert zu haben (arme Victoria Beckham), ließ Kelis erst in den vergangenen Monaten hin und wieder von sich hören. Gastauftritte, darunter im barocken Safari-Zirkus von Foxy-Brown ("Candy"), ein Duett mit Busta Rhymes, etc. Dann die Single-Auskopplung "Young, Fresh ŽN New" und jetzt das bei Virgin erschienene Album: "Wanderland". Ja, sie ist wieder da. Und sie hat in ihrer Abwesenheit offensichtlich nicht tatenlos rumgesessen. Beim Hören des neuen Albums hat man stets das Gefühl, eine geballte Ladung Musik (ganze 62:58 Minuten!!!) verabreicht zu bekommen.

Im Kontrast dazu war "Kaleidoscope" eine hochkonzentrierte Übung in Sachen minimaler Tristesse. Merkwürdig so was von Musik zu sagen, die so viele Freudensprünge ausgelöst hat. Ein Widerspruch? Die Arrangements auf Titeln wie "Roller Rink" und "Good Stuff" waren von Nostalgie durchtränkt. An Italo-Disko erinnernde Elektro-Akkorde etwa, beamten HörerInnen in einen emotionalen Raum, der für Charts-Musik eine reichlich zerbrechliche Tonalität anschlug. Euphorie kam auf, weil Kelis mit musikalischen Stilen aus einer ungewohnten Perspektive zu jonglieren schien. Der Kunstgriff, Musiken aus der Vergangenheit so hörbar zu machen, wie man sie in der entfernten Zukunft aufgreifen würde, wird von Kelis auf "Wanderland" perfektioniert. Sie hat sich diesmal noch viel weiter aus dem Fenster in die Zukunft gelehnt und damit einen wahrlich göttlichen Blickwinkel eingenommen. Sie sieht alles, hat alles gehört und weiß, wie sich Dinge nach all den Jahren, Stilwechseln und vermeintlichen Innovationen anzuhören haben. Sie hat ein sicheres Händchen und spielt diese Selbstsicherheit auch aus, ohne dabei überheblich zu wirken. Sie wirkt vielmehr wie das losgelöst-unbefangene Kind, das in einem fremden Spielzimmer mit lauter bunten Bausteinen eine eigene Welt baut.

Herausgekommen ist ein Album, das wohl nicht zufällig den Titel "Wanderland" trägt - offensichtlich an "Alice im Wunderland" angelehnt. Hatte man Rhythm&Blues in letzter Zeit immer wieder großes Crossover-Potential zugesprochen, so ist diese Platte ein Zeichen dafür, was möglich ist. Allein die Single-Auskopplung "Young, Fresh ŽN New" versetzt alle R&B- und Kelis-Fans in Staunen. So orgiastisch und zugleich entrückt-cool hätte es nicht einmal Lenny Krawitz hinbekommen. Doch was haben Rockgitarren auf einer R&B-Platte zu suchen? Alles geht, alles ist erlaubt, alles ist willkommen. Denn Kelis kennt keine Grenzen im Wunderland. Und so schafft sie es nicht nur Lenny Krawitz zu vereinnahmen, sondern auch Towa Tei. Was für ein Schachzug! Doch ist Kelis keine kalkulierende Strategin. Wenn sie, wie bei "Little Suzie" auf Bossanova setzt, dann aus purem Spass am Sound. Und der scheint in ihrem Verständnis von R&B ein offenes Modul zu sein. Keine Frage, dass wie bei einem der hidden Bonus Tracks, auch 80erJahre-Phil Collins in den Kelis-Stream geworfen wird: aufgemotzt, durchgepunkt, emotional hochgepitcht. Musikalisches Doping muss keine Sünde sein. Das zeigt der Weg von "Kaleidoscope" bis zu "Wanderland". Letzteres ist jedenfalls ein Album der Superlative, die R&B-Olympics im Pop-Olymp. Ein Werk, das Kelis auch emotional fragile Augenblicke auf noch reifere, ja, weisere Art vortragen lässt.

Mit diesen Qualitäten im Gepäck, erscheint Kelis derzeit als das ultimative Star-Modell. Mit ihren bunten, stets modischen Klamotten und ihrer wuschelig-zerzausten Locken-Mähne ist sie absolut kinderfreundlich. Ihr Rebellentum ist in diesem Zusammenhang weder widersprüchlich - "Es gibt nur wenige Spektakel, an der die Wirtschaft Amerikas mehr Freude hat als an einer guten Gegenkultur." (Thomas Frank) - noch erscheint es als aufgesetzt, was man von einem markt- und kinderfreundlichen Star durchaus annehmen könnte. Vielmehr ist Kelis, als jemand, der sein Teenager-Dasein in den 90er Jahren fristete, in vielerlei Hinsicht ideologisch nicht vorbelastet und kann ohne Vorbehalte und Rücksicht auf Geschichte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Wie ihr bereits von allen Seiten bescheinigt wurde, steht sie über den Dingen und ist einfach soweit draußen ("far out"), dass sie selbst die Grenzen des Schwarzen-Ghettos ohne mit der Wimper zu zucken hinter sich gelassen hat.

Die Ästhetik ihrer Images und Videos setzt sich dementsprechend aus Elementen zusammen, die den teilweise doch recht engen Horizont "schwarzer" Pop-Kultur sprengen. Das Spektrum reicht von Anleihen im Fantasy-Genre (stilisierte Inszenierungen einer verwunschenen Pop-Prinzessin) bis hin zum ausgelassenen Reigen in der Realität: Können Sie sich vorstellen, was herauskommt, wenn John Cassavates ein R&B-Video abdreht? Kelis macht diese Gradwanderungen möglich. Mit Links möchte man sagen. So wie sie eben auf einem von Kayt Jones in einer jüngeren iD-Ausgabe veröffentlichten Foto auf dem Bauch liegend ihr Kleid hochhebt und ein Tattoo auf ihrem Hinterteil zum Vorschein kommen lässt. ItŽs real!