Mythos Alleskönner

Die totale Konvergenz in der mobilen Multimediawunderwelt wird auf sich warten lassen

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Immer mehr Anwendungen und Standards müssen in Handys integriert werden. Doch anstatt viele Features jeweils nur ein bisschen zu beherrschen, spezialisiert sich mobiles Gerät immer stärker. Ein Smartphone, das alles kann, wird immer mehr zum Mythos.

"Wir werden künftig nicht alle Technologien in einem Gerät zur Verfügung haben", prophezeit Vidar Kalvoy, Analyst bei der Frankfurter DZ Bank AG, wenn er über die künftige Angebotslandschaft bei Handys, Smartphones oder Organizern nachdenkt. Denn der Übergang von der zweiten zur dritten Geräte-Generation durch den schnellen Übertragungsstandard UMTS schaffe nicht nur viele neue Möglichkeiten, es schränke sie auch gleichzeitig ein - zumindest auf Geräte-Ebene. So sorgt die schöne neue mobile Multimediawunderwelt für einen grundlegenden Wandel der Angebotslandschaft. Und: Für die Einsicht, dass totale Konvergenz doch noch ein wenig auf sich warten läßt.

Immer mehr unterschiedliche Übertragungsarten sollen in die Winzlinge integriert werden. Weil beispielsweise UMTS noch nicht vom Start weg flächendeckend zur Verfügung stehen wird, müssen die Geräte der Zukunft alle drei großen Sendestandards unterstützen: UMTS, das heutige GPRS sowie traditionelles GSM. Auch im Nahbereich konkurrieren etliche Verfahren, die es zu integrieren gilt: Für die Übertragung zum Headset soll Bluetooth zur verfügungbar sein, für das Einklinken in das kabellose Firmennetz eine WLAN-Option. Auch auf die altbekannte Infrarotschnittstelle, die das Handy mit einem Laptop verbindet, will keiner verzichten.

Die künftigen Handys sollen auch immer mehr können: E-Mail, mobiles Internet, digitale Bilder, kleine Filme, Textverarbeitung, Terminverwaltung und sogar Tabellenkalkulation. Für das mobile Surfen durch den Dienst i-Mode, den Lizenznehmer E-Plus zur CeBit hierzulande startete sowie für das Betrachten von Bildern und Animationen müssen die Displays farbig sein. Außerdem sollen Downloadspiele und die SMS-Nachfolger "EMS" (Enhanced Messaging Service: Weiterentwicklung von SMS, das die 160 Zeichengrenze durch Koppelung mehrerer SMS aufhebt) und "MMS" (Multimedia Messaging Standard: Eine Weiterentwicklung der Bild- und Textübertragung in Mobilfunknetzen per SMS. MMS wird ermöglicht durch gesteigerte Mobilfunk-Bandbreiten mit Techniken wie z.B. UMTS oder GPRS) unterstützt werden. Ein MP3-Player und UKW-Radio wäre ebenfalls praktisch, damit das Teil auch als Walkman taugt. Gleiches gilt für ein Kamera-Auge und Spiele, mit denen sich Wartezeiten vertreiben lassen.

Doch so wünschenswert diese eierlegende Wollmilchsau auch wäre, sie wird es wohl nie geben. Denn all die Möglichkeiten machen die Geräte nicht nur teurer - was keiner will - sie stoßen auch an ihre natürlichen Grenzen. So macht die Integration vieler Anwendungen nicht immer Sinn: Wer möchte schließlich eine komplizierte Tabellenkalkulation auf einem drei mal vier Zentimeter großen Display studieren müssen?

Wer heute vom Handy aus im Internet surfen möchte, braucht nicht nur Geduld, sondern auch Zeit zum Scrollen: Rund ein halbes Dutzend unterschiedlicher Bildschirmgrößen wird im Markt angeboten. Dass Content Provider jemals alle Formate unterstützen werden, ist in der gegenwärtigen Wirtschaftslage kaum wahrscheinlich.

"Die bequeme Bedienbarkeit wird das größte Problem der Zukunft", meint Michael Heidemann, Produkt-Manager und Entwickler im Bereich Technologie Marketing bei Frankfurter Nokia. "Denn je mehr Funktionen ich in das Gerät einbringe, die der Inhaber nicht benutzt, desto unwohler fühlt er sich und fragt sich, wozu er das Geld für die Anschaffung ausgegeben hat." Die Lösung sieht Heidemann in einer möglichst intuitiven Benutzerführung und in Reduktion: Was die Zielgruppe nicht brauchen kann, wird weggelassen. Auch für Geräte, auf denen sich ähnlich wie beim PC, Anwendungen beliebig installieren oder löschen lassen, sieht der Entwickler kaum einen Massenmarkt: "So etwas macht nur ein kleiner Anteil von Heavy-Usern." Schließlich habe der Markt mehr als sechs Jahre gebraucht, um den Download von Klingeltönen zu lernen.

Auch technische Restriktionen bestimmen die künftige Entwicklung: Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die Form-Faktoren "Miniaturisierungsgrad", "Anzahl der Funktionen" und "Akku-Kapazität" Gegenspieler sind. Große und farbige Displays, viele und vor allem anspruchsvolle Funktionen benötigen leistungsfähigere Chips, die aber ausgesprochene Stromfresser sind. So muss das Handy eben immer häufiger am Stromnetz auftanken. Wer das nicht möchte, muss auf Funktionen verzichten.

So verschwindet das Gerät, das alles kann, endgültig von der Agenda der Hersteller. Stattdessen differenziert sich die Geräte-Landschaft aus: Anstatt alles in ein Teil zu pressen, integrieren die Hersteller die Funktionen und Schnittstellen entlang von Zielgruppen-Profilen. Bestes Beispiel ist das Nokia 5510, das für das Weihnachtsgeschäft auf den Markt gebracht wurde, allerdings technologisch auf dem Stand von vor eineinhalb Jahren ist. Das Teil (Zielgruppe: Kids), einem Brillenetui mit Bildschirm nicht unähnlich, unterstützt nur das klassische GSM-Netz, nicht aber den neuen Standard GPRS. Der Gag ist sein links und rechts vom Display angeordnetes Tastenfeld mit dem sich SMS noch schneller einhacken lassen.

Es wird also immer mehr unterschiedliche Gerätetypen geben. Je nachdem, was man damit anfangen - und anlegen - möchte: Für die Hobbysportler, der nach einer Bergbesteigung den Vollzug der sportlichen Leistung bekannt geben möchte, ein robustes, unkaputtbares Freizeithandy. Für den Nightlifer ein designorientiertes Accessoire, das sich Garderobe oder Stimmung anpassen lässt. Ausgesprochene Business-Handys, die leistungsfähige Übertragungsstandards unterstützen, über eine Reihe von Business-Anwendungen sowie über ein großes Farbdisplay verfügen und außerdem in der Lage sind, Daten wie Termine vom Desktop-PC aus zu übernehmen.

Marktführer Nokia gliedert seine Produktpalette künftig in die vier Bereiche: "Communicator" (Business-Anwendungen wie MS-Office), "Entertainment-Phone" (Musik, Spiele, SMS, EMS), "Imaging Phone" (integrierte digital Kamera, EMS, MMS) sowie "Media Phone" (mobiler Internetzugang) und sortiert die Funktionen und Verkaufspreise entsprechend dazu. Auch Motorola (zweiter im Markt) und Siemens differenzieren ihre Produktkategorien immer stärker aus. Walter Hühn, Geschäftsführer der Motorola GmbH und General Manager des Personal Communications Sectors, sieht neben dem Handy als Business-Tool eine Zukunft als Modeartikel und Lifestyle-Produkt. Das V70 soll mit einer drehbaren Oberschale diese Anforderungen erfüllen. Die "Game Machines" S230 und J530 des britischen Herstellers Sendo, die über ein Dutzend eingebaute Spiele verfügen, verzichten deshalb auf alle weiteren Features.

Dabei wird es allerdings, so Siemens-Pressesprecherin Anja Klein, Funktionen geben, die zum unverzichtbaren Standard zählen, praktisch "Hygienefaktoren", die nur dann auffallen, wenn sie nicht vorhanden sind. Auf GPRS-Unterstützung, so Klein, wird keiner mehr verzichten wollen: "Ich glaube nicht, dass sich Kunden nach unten orientieren."

Die zunehmende Spezialisierung der Geräte hat auch Folgen für die Anwender. Wenn wir die vielfältigen beruflichen und privaten Kommunikationsbedürfnisse nicht mehr mit einem Gerät erledigen können, werden wir - wohl oder übel - eben mehr mobiles Kommunikationsgerät mit uns herumtragen müssen. Eines um Bildpostkarten an unseren Freundeskreis zu schicken, ein bißchen zu daddeln und Zeit todzuschlagen. Und eines mit dem besagte Excel-Tabellen studiert, Termine und Projekte verwaltet und Datenbankabfragen erledigt werden können. Das freut auch die Hersteller, die mit dieser eher aufgezwungenen Strategie hoffen, ihren Knick in der Verkaufskurve nach oben zu korrigieren. Denn eines, da sind sich alle Beteiligten einig, wird sich in keinem Fall verkaufen lassen: Geräte, die alles können, aber nichts wirklich richtig.