NSU-Ermittlungen: Schützt das Bundeskriminalamt Ralf Wohlleben?

Auch nach dem Ende des Terrortrios gab es zahlreiche fragwürdige Unterlassungen der Polizei - bis heute

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wird seit dem 4. November 2011 wirklich gründlich ermittelt? Gerade ein halbes Dutzend Mal hat der Untersuchungsausschuss des Bundestages bisher getagt - und immer lückenhafter erscheinen die Ermittlungen nach dem Ende des NSU-Trios. Gleichzeitig wird immer offensichtlicher, wie Behörden auch aktuell gegenüber dem Parlamentsgremium mauern. Jüngst ist ein Verdacht aufgekommen: Wird Ralf Wohlleben von Amtswegen geschützt?

Zunächst nach München. Wohlleben ist nach Beate Zschäpe der wichtigste Angeklagte im Prozess über die NSU-Verbrechen vor dem Oberlandesgericht. Beide sind bis heute in U-Haft, während die drei anderen Angeklagten André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze sich frei bewegen können. Wohlleben wird vorgeworfen, die Ceska-Pistole beschafft zu haben, mit der neun Menschen erschossen wurden. Wie Zschäpe hat auch Wohlleben im Dezember 2015 nach zweieinhalb Jahren sein Schweigen gebrochen.

Er räumte ein, eine Waffe in der Hand gehabt zu haben, die von Schultze zu den drei Untergetauchten Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gebracht wurde. Er bestreitet aber, der Beschaffer zu sein. Im Gegensatz zu Zschäpe, die ihre Einlassung von ihrem Anwalt vortragen ließ, äußerte sich Wohlleben persönlich und stand im Januar 2016 dem Gericht auch Rede und Antwort. Er wollte damit demonstrieren, dass er kooperiere und nichts zu verbergen habe.

Rechner bislang nicht entschlüsselt

Eine Anwältin der Nebenklage forderte ihn auf, den Schlüssel zu seinen Rechnern preiszugeben, damit diese ausgelesen werden könnten. Wohlleben lehnte das mit der Begründung ab, auf seinen Rechnern befänden sich private Fotos seiner Familie. Er wolle nicht, dass die an die Medien gelangten, wie schon einmal passiert.

Was man dadurch nebenbei erfuhr: Die Rechner von Wohlleben sind offensichtlich bisher vom BKA nicht entschlüsselt worden. Deshalb werden nun Vorgänge interessant, die das BKA selber in den Fokus setzen und die erst vor kurzem bekannt wurden, in den NSU-Untersuchungsausschüssen von Thüringen und des Bundestages.

BKA nahm einem IT-Experten mitten in der Arbeit Datenträger aus den Händen

Im Paul-Löbe-Haus in Berlin wurde im April Christian Hummert als Zeuge gehört. Der letzte des Tages, bis abends um 22 Uhr. Hummert ist Professor für IT-Sicherheit und digitale Forensik und war von 2009 bis 2015 beim Landeskriminalamt (LKA) in Thüringen angestellt. Ende November 2011 wurde Ralf Wohlleben festgenommen, seine Wohnung durchsucht und mehrere technische Geräte beschlagnahmt. Seltsam ist bis heute, warum diese Aktion erst dreieinhalb Wochen nach der Aufdeckung des NSU am 4. November 2011 geschah. Für den Beschuldigten viel Zeit, um Beweismittel verschwinden zu lassen und Spuren zu verwischen.

Christian Hummert wurde damit beauftragt, die Daten der Wohllebschen Geräte zu sichern: Mehrere Rechner, Festplatten, Sticks, Handys. Er bekam sie an einem Nachmittag und begann mit der Datensicherung. Doch am nächsten Morgen, früh gegen 6.15 Uhr, als er noch alleine in der Dienststelle war, seien "viele Herren des BKA" gekommen, vier bis fünf, und forderten ihn auf seine Arbeit abzubrechen - so die Geschichte, wie sie Hummert schildert. Es war der Staatsschutz, der die Geräte beschlagnahmte und mit nach Meckenheim nahm.

Wer entschlüsselt die denn beim BKA?, habe er noch gefragt, weil er wusste, dass es damals bei dem Amt keine Abteilung gegeben habe, die sich mit Entschlüsselungen von Computern befasste. Darum würden sie sich schon kümmern, sei die Antwort gewesen. Die Datenträger von Wohlleben kamen nie zurück. Auch die Teilsicherung der Daten, die Hummert bereits vorgenommen hatte, musste später dem BKA in Meckenheim übergeben werden. Und schließlich wiederholte sich dieser Vorgang bei den Rechnern von André Kapke und Sven Rosemann. Auch die beschlagnahmte das BKA beim LKA in Thüringen. Rosemann und Kapke waren führende Neonazifiguren in Thüringen. Kapke unterstützte das Trio nach dessen Untertauchen. Er ist einer der weiteren neun Beschuldigten im NSU-Komplex, gegen die die Bundesanwaltschaft bis heute ermittelt.

Christian Hummert und sein Vorgesetzter im LKA waren mit dem Verhalten des BKA nicht einverstanden und formulierten eine Beschwerde, die zu den Akten kam. Dadurch erfuhren die Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Berlin Jahre später überhaupt von der Sache und dem Namen Hummert. Die "Sache", das ist zusammengefasst: Das BKA nimmt einem IT-Experten mitten in der Arbeit Datenträger aus den Händen und hat sie bis heute offensichtlich nicht entschlüsselt.