Nadia Thalmann, Schöpferin der virtuellen Marilyn Monroe

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Wie Lebensecht sind Swiss-made Menschen?

Nadia Thalmann ist die Gründerin und Leiterin des Schweizer Instituts MIRAlab. Die Technowissenschaftlerin hat, vom berühmten 3D-Modell Marilyns, bis zum virtuellen 1:1 Abbild von sich selbst, persönliche Datensets als Mathematikerin und Programmiererin geschaffen.

TART~Jahrmann traf Nadia Thalmann im Sommer 97 beim 3D-Avatar-Workshop "Isolation/Communication" in Topolcianky, Slowakien. Prof. Thalmann hielt den Eröffnungsvortrag des Workshops und stand in der Folge der kleinen Gruppe von Workshopteilnehmern für viele Fragen zur Verfügung.

Prof. Thalmann beim Vortrag in Topolcianky. In dieser Arbeitssituation ging sie auch auch auf Fragen der Ethik im virtuellen Cloning ein, auf die sie ansonsten allergisch reagiert.

MIRAlab, wo Forschung Kreativität bedeutet!

Margarete Jahrmann hinterfragte den Wahlspruch des Forschungslabors:
"Ist damit der kreative Programmierer gemeint?"
"Ja", antwortete Thalmann. Doch die erfahrene Interviewpartnerin wollte ihre Arbeit vor allem als interdisziplinäre Leistung dargestellt wissen.

Das der Genfer Universität angeschlossene Forschungszentrum MIRAlab wird als das "World Leader Lab In Virtual Reality, Telepresence and 3D Animation" bezeichnet. Frontfrau, auch auf der Homepage, ist bislang die digitale Marilyn Monroe. Seit neuestem macht ihr aber das Abbild der Institutsgründerin Nadia Magnenant Thalmann den Rang als virtuelles Schönheitsideal streitig.

Nadia Thalmann betrachtet ihr eigenes virtuelles Alter Ego.

Eine Mischung aus Euphorie, Leidenschaft (Nadia: "I still love Marilyn") und mathematisch technischer Präzision definiert die Arbeit im MIRAlab. Auch wenn Thalmann die internationalen kommerziellen Erfolge nicht unmittelbar beschert sind, so wurden ihre Entwicklungen doch in zahlreichen Referenz-Publikationen angeführt und bei Konferenzen wie der SIGGRAPH95 präsentiert.

Thalmanns Definition eines neuen Typs eines kreativen Wissenschaftlers ist eine Folge ihrer realistischen Einschätzung der Bedingungen im 3D-Computer-Business. Für Kunst gibt es kaum finanzielle Ressourcen. Geld und Aufmerksamkeit verteilen sich zu einem Drittel auf die Telekommunikationsindustrie (Telepräsenz, 3D-Conferencing, Virtual Prototyping), das zweite Drittel wird vom Entertainment-Sektor beansprucht, das dritte geht an die Wissenschaft.

Die verschiedenen Fotschungsbereiche des MIRAlab.

Persönliche Motivationen für ihre Forschung sieht Thalmann in der Möglichkeit, mit Hilfe der Computertechnologie kreativ zu werden und eigene Welten zu schaffen. Sie graduierte in Biologie und Psychologie, dann in Biochemie. Ihr Doktorrat erhielt sie in Quantenmechanik, konkret für die 3D Visualisierung der Theorien von Schrödinger (Schrödingers Katze). Danach arbeitete sie in Kanada an der Realisierung einer Modellwelt für wissenschaftliche Versuchsanordnungen und wurde Professorin an der Universität von Montreal.

Seit dieser Zeit arbeitet ihr Mann, der Mathematiker Daniel Thalmann, mit ihr zusammen. Die gemeinsam entwickelte MIRA-Language ist ein Vorläufer objektorientierter Programmiersprachen. Der abstrakte Animationsfilm "dreamflight", ein erster Entwurf einer computergenerierten 3D-Welt, brachte ihnen seit 1982 Anerkennung und wissenschaftliche und künstlerische Preise. Weltweite Aufmerksamkeit erregten ihre Ergebnisse in der Animation "künstlicher Menschen", vor allem die 1987 mit neuen Algorithmen erstellte 3D-Marylin. Der dazu produzierte Demofilm "Rendevouz a Montreal" lief weltweit auf vielen Fernsehstation.

Virtual Marilyn starring at MIRAlab.

Das Labor für Computerwissenschaften, das nun zum @Home von Nadia, der virtuellen und der realen, geworden ist, wurde 1989 von den Thalmanns gegründet. Die Forschungsarbeit des Teams von Doktoranden am MIRAlab dreht sich um eine Reihe spezifischer Themen der 3D-Simulation: Kleidung, Gesichtsanimation, Telepräsenz, medizinische Simulation, interaktive vernetzte VR-Welten.

Realistische Modellierung von Gesichtsausdrücken

Die virtuelle geklonte Marylin, mit der Nadia Thalmann berühmt wurde, bestand aus 8000 Polygonen. JLD Operators (Joint Dependent Local Deformation Operators), das Konzept für die Programmiersprache zur Simulation von umgebungsunabhängigen Deformationen von Körpern, Texturen und Oberflächen, sprich auch der Simulation von Stoff, Kleidung und Haaren auf 3D Körpern, wurde von Nadia Thalmann unterstützt von ihrem Mann, Daniel Thalmann, der vor allem Algorithmen für die grafische Darstellung beisteuerte, entwickelt.

Simulation von Kleidungsdeformationen

Die 1982 begonnen Forschungsarbeiten waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1987 eine absolute Pionierleistung. Mit ihren Forschungen lieferten sie die Grundlagen für heutige 3D-Modeling-Programme wie Alias Wavefront oder ähnliche Applikationen.

Serie von Marilyns für Ausdrucksrepräsentation

Neben den konkreten mathematischen Modellen zur Beschreibung naturalistisch aussehender und sich bewegender Körper, sind nun auch interaktive psychologische Beschreibungen der synthetischen Schauspieler in Planung.

Wie real muß die virtuelle Welt sein?

Ist die realistische Abbildung des "wirklichen Lebens" überhaupt für den Datenraum angebracht? Die naturalistische Darstellung, Nachahmung oder Erschaffung von Menschen in Datenform ist nicht nur eine technische Angelegenheit, sondern auch eine ästhetische, ethische und vielleicht sogar moralische Frage.

Abstrakte mathematische Prozesse werden mit der Bewegung von Kleidung und Stoff repräsentiert. Die Veränderungen der Kleidung werden in Echtzeit beim Gehen von Marylin berechnet.

Die Klärung der Frage, ob Repräsentanten im virtuellen Datenraum, sprich Avatars, realistische Abbilder der realen Lebenswelt sein sollten, wird immer nötiger. Genügen uns standardisierte Avatarsets oder soll die Darstellung von Identität im Datenraum etwas vollkommen Neues sein?

Binäre Modelle von Welten bieten im Gegensatz zu biologischen Welten die Möglichkeit, kleine Fehler der realen Lebenswelten auszubessern. Es ist leichter, über biotechnologische Entwicklungen zu fantasieren. Doch die positivistische Wissenschaftvorstellung, dass dort, wo die Realität fehlerhaft ist, VR eingreift, verlangt exakte Repliken biologischer Realitäten. So ist die Erstellung elektronischer Ersatzwelten mit großem Arbeitsaufwand verbunden. Allein an der Erstellung eines Modells einer menschlichen Hand wurde im MIRAlab 5 Jahre gearbeitet. Die Faszination an der Natur besteht für Thalmann darin, dass sie gratis als Vorbild zur Verfügung steht. Indem sie die Natur als ihr Vorbild benutzt, schreibt sie ihr eigenes Skript des Lebens und lebt innerhalb der Frames ihres eigenen Films. Ob ihre persönlichen Eigenheiten je virtuell geklont werden können, bleibt aber zu bezweifeln.

Why, For What and Who She Is..

"DonŽt ask me why", antwortet Nadia Thalmann auf die Frage, warum sie virtuelle Menschen schaffen will.

Der Wunsch nach einer perfekteren, smarteren Welt war einer der ursprünglichen Antriebskräfte für die kreative Forscherin Thalmann. Die Frage, warum sie virtuelle Menschen schaffen will, beantwortet sie aber nicht. "Dont ask me why!" ist ihre einzige, echauffierte Antwort. Sie will sich weder philosophischen noch europäisch moralistischen Kritikern stellen. Ihre Erfahrungen in den letzten 15 Jahren sind diesbzüglich nicht besonders gut gewesen. Sie wurde in Europa von Anfang an angegriffen und flüchtete dann, nach einem Forschungsaufenthalt in Montreal, nach Japan. Die Japaner sind ihrer Meinung nach viel offener für ihre Ideen vom künstlichen Menschen und setzen dies auch gleich in Spiel- und Unterhaltungsumgebungen um.

Kyoko Date mit ihrer Internetpräsenz und millionenfach verkauften eigenen Singles gibt uns heute als 100 Prozent synthetische virtuelle Kultfigur Zeugnis davon.

Ein Angebot eines Produzenten, ihr 3D-Modell Marilyns für einen Pornofilm zu verkaufen, lehnte sie allerdings ab. Diese Idee scheint eine logische Anwendungskonsequenz von virtuellen und ins Netz geladenen Körpern zu sein.

Miriam English, die an der VR-Welt "Electra City" in Australien arbeitet, stellt sich vor, dass 3D Puppen mit Gesichtern nach realen Personen in Zukunft hergestellt werden könnten, und fragt:

"Wie würden Sie darüber denken, wenn ein Fremder (Mann) Ihr Gesicht plötzlich ins Netz bringt und...?"

Nadia hatte aber eine perfektere Welt im Sinn. Sie ist eine jener Persönlichkeiten, die den euphorischen Fortschrittsglauben und Wissenschaftspositivismus von Professores, die faustsche Homunculi schaffen, mit glänzenden Kleinmädchenaugen in ihren Traumwelten auflöst.