Narratologen und die Ludologen

Ein neues Buch über das Computerspiel "Silent Hill" erprobt verschiedene Interpretationsweisen für Games

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das neue Fach "Game Studies" hatte seinen ersten Methodenstreit bereits, bevor es sich auch nur konstituiert hatte. Noch ehe an den Universität erste Fachbereiche eingerichtet wurden, die sich mit Computerspielen als zu interpretierendem Kulturgut auseinander setzen, hatten sich die "Game-Wissenschaftler" in zwei Lager geteilt. Die Narratologen und die Ludologen.

Screenshot "Silent Hill"

Die "Narratologen", vertreten unter anderem durch den Deutschen Julian Kücklich und seiner Computerspielphilologie nähern sich an das junge Medium mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft an und beschäftigen sich besonders mit den narrativen Mitteln, mit denen Computerspiele ihre Geschichten erzählen. Die "Ludologen" wie etwa der Däne Jasper Juul (A Clash between Game and Narrative) dagegen berufen sich auf Spiel-Theoretiker wie Johan Huizinga oder Roger Caillois und analysieren die Games in erster Linie als Spiele. Zwischen diesen beiden Lagern sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Schaukämpfe miteinander ausgetragen worden.

Und das sind nur zwei der diversen Ansätze bei der Analyse von Computerspielen. Der amerikanische Medienwissenschaftler Mark Wolf hat die Werkzeuge der Filmanalyse auf Games angewendet. Und die MIT-Allzweckwaffe Henry Jenkins hat in seinem Aufsatz Game Design as narrative Architecture die Gestaltung von "Erlebnisräumen" - wie den Fahrgeschäften in Vergnügungsparks - als Referenzpunkt für die Gestaltungsprinzipien von Spielen ins Spiel gebracht.

Doch Methodenstreitigkeiten tragen in der Regel wenig zum konkreten Verständnis der Phänomene bei, die mit diesen Methoden erklären wollen. Früher oder später müssen sie auf die konkreten Phänomen angewendet werden, um ihre Validität zu beweisen. Daher ist der Ansatz eines neuen Buchs über Computerspiele interessant, das erstmals verschiedene methodische Ansätze am Beispiel eines einzigen Games durchprobiert.

Screenshot "Silent Hill"

Der deutsche Reader "See? I'm real" nimmt sich das Gruselspiel "Silent Hill" in dreizehn Aufsätzen aus ganz verschiedenen Perspektiven vor. Das Survival-Horror-Game lässt den Spieler in einer amerikanischen Kleinstadt gegen Monster kämpfen. Das Spiel hatte schon bei seinem Erscheinen wegen seiner ungewöhnlichen, atmosphärischen misé-en-scene (weite Passagen spielen in nebeligen Szenerien) und ungewöhnlichen Handlungswendungen (in "Silent Hill II" muss man minutenlang über einen See rudern, ohne dass etwas geschieht) für Aufmerksamkeit gesorgt. Diesem ungewöhnlichen Spiel, das inzwischen in vier Folgen Gamer das Fürchten gelehrt hat, hat seit seiner ersten Version von 1999 sowohl die Fans wie die Kritiker begeistert.

Mitherausgeberin Britta Neitzel hat sich mit ihrer Doktorarbeit Gespielte Geschichten zwar als Vertreterin der "narratologischen" Methode zu erkennen gegeben. Trotzdem ist der vorliegende Band von einem wohltuenden methodischen Pluralismus geprägt. Neben Medienwissenschaftlern kommen auch Pädagogen und Gamedesigner zu Wort; viele der Beiträge lassen sich auch gar nicht in ein methodisches Raster pressen. Trotzdem machen die Herausgeber bereits im Vorwort klar, dass sie "Silent Hill" nicht ausgewählt haben, weil es ihr Lieblingsspiel ist:

Die Wahl der Serie 'Silent Hill' als Untersuchungsgegenstand dieses Buches ist dabei relativ kontingent und lediglich der Popularität des Spiels geschuldet. Ausgangspunkt für die Publikation war der Ansatz, ein beliebiges, aktuelles und populäres Spiel aus verschiedenen Perspektiven heraus zu untersuchen. Viele der hier versammelten Perspektiven ließen sich daher ebenso auf andere Spiele, Genres und Plattformen anwenden.

Karla Schmidt untersucht das Spiel in narratologischer Tradition als "klassische Heldenreise", Matthias Bopp betrachtet es als eine "arrangierte Lernumgebung", Gunnar Sandkühler sieht "Silent Hill" als "Quelle der Kultur- oder Mentalitätsgeschichte" und Rolf F. Nohr rückt dem Game mit dem Instrumentarium der Apparatus-Theorie zu Leibe.

Screenshot "Silent Hill"

Zu den stärksten Texten des Bandes gehören diejenigen, die nicht in erster Linie darauf aus sind, eine bestimmte Methode zu propagieren, sondern sich ganz auf die eigentümliche Welt von "Silent Hill" einlassen. Markus Rautzenberg betrachtet das Spiel im Zusammenhang von ähnlichen Motiven in Horrorfilmen der Gegenwart, bevor er sehr stringent die selbstreferentiellen Züge von "Silent Hill" als konstitutiv für die besondere Ästhetik des Spiels bestimmt.

Nach Lektüre des Buchs wundert man sich nicht nur darüber, wie viel an Erkenntnisgewinn man aus einer einzigen Spielserie herausholen kann, sondern auch darüber, in wie kurzer Zeit akademische Diskurse in die Literatur über Computerspiele Einzug gehalten haben, die noch vor kurzer Zeit vor allem aus Fan-Büchern bestand. Seine Beiträge wären zum Teil allerdings durch etwas weniger Methodentreue und etwas mehr Fantum lebendiger geworden.

Britta Neitzel; Matthias Bopp; Rolf F. Nohr (Hrsg.): "See? I'm real..." Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von 'Silent Hill', Münster 2005 (Lit Verlag)