Neokonservative Zeitenwende: Wohin steuert Deutschland im Globalkonflikt?

G7-Staats- und Regierungschefs bei einem Nato-Treffen in Brüssel am 24. März 2022. Bild: Michael Kappeler / Public Domain

Die Bundesregierung beteiligt sich an einem Weltwirtschaftskrieg. Die Folgen sind gravierend. Die Konfrontation sollte schnell beendet und eine diplomatische Offensive gestartet werden.

Die neokonservative "Zeitenwende" stürzt Deutschland in eine längerfristige multiple Krise. Ergebnisse der Friedenspolitik, der Rüstungsbegrenzung, der ökonomischen und sozialen Stabilität und des ökologischen Gesellschaftsumbaus werden um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Prof. Dr. Lutz Kleinwächter lehrte von 2008 bis 2021 Wirtschaftspolitik und Außenwirtschaft an der bbw Hochschule in Berlin.

Das Hauptproblem ist der Weltwirtschaftskrieg des Westens, inklusive Deutschlands, gegen den Globalen Osten/Süden. Die Ampelregierung ist nach über einem halben Jahr der Verkündung einer "Zeitenwende" nicht in der Lage, das internationale Kräfteverhältnis und die Interessen des eigenen Landes realistisch einzuschätzen sowie daraus eine praktikable Strategie zu entwickeln. Sie irritiert und fügt der Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands Schaden zu.

Deutschland befindet sich in einem (mitverschuldeten) Krieg – in einem von den USA und ihren westlichen Verbündeten angezettelten globalem Sanktions-/Wirtschaftskrieg gegen Russland, China und ihre Verbündeten. Eine große Mehrheit der Staaten und Völker im Osten und Süden verweigern diese Konfrontationspolitik. Grundsätzlich handelt es sich um die Fortsetzung eines bereits das 20. Jahrhundert prägenden, öko- nomisch-weltanschaulichen Systemkonflikt "Marktwirtschaften/Demokratien" gegen ihre Antipoden und vice versa.

Zwei Weltkriege (1914-18; 1939-45) sowie der folgende Kalte West-Ost-Krieg (1945-1990) dominierten das Weltengefüge. Hauptakteure waren die europäischen Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien sowie das eurasische Russland/Sowjetunion, die USA und Japan. Neue Groß- und Regionalmächte – China, Indien, Brasilien, Südafrika usw. – entwickelten sich um die Jahrhundertwende. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen unterliegen in dieser globalen Multipolarität dynamischen ökonomischen und militärischen Veränderungen.

Ein offener (Dritter) Weltkrieg zwischen den Großmächten ist im nuklear-kosmischen Zeitalter, seit den 1960er Jahren nicht mehr führ- und gewinnbar. Der Systemkampf wird jedoch unter neuen Rahmenbedingungen fortgesetzt. Ein umfassender Sanktions-/Weltwirtschaftskrieg prägt die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Als zugespitzter Vorwand dafür dient dem Westen, unter Führerschaft der USA, der Regionalkrieg Russlands gegen die Ukraine im Osten Europas.

Hauptproblem: Deutschland als stärkste Volkswirtschaft Europas und viertgrößte global benötigt eine umfassende und sichere Energie- und Rohstoffversorgung. Im Widerspruch dazu betreibt die Ampelregierung einen Wirtschaftskrieg gegen Russland – gegen die weltweit größte Rohstoffmacht. Das ist irrational, kurzsichtig-aktionistisch und zeugt von einem deutlichen Mangel an strategischen Sachverstand der verantwortlichen Minister zum Schaden der deutschen Wirtschaft und Bevölkerung. 68 Prozent der deutschen Führungskräfte bewerten die Bundesregierung negativ (Wirtschaftswoche, 12. August 2022).

Von Bismarck bis Scholz ...

Seit Bismarck Mitte des 19. Jahrhunderts ist für die realistischen Teile der Führungselite klar, dass eine Kooperation mit Russland existenziell für eine stabile Entwicklung Deutschlands ist. Erinnert sei auch an den Rapallo-Vertrag (1922) zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion, zur Überwindung der ökonomischen Isolation in der Zwischenkriegszeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.

Die Gründung des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft (1952) schuf eine aktive Plattform im Kalten Krieg bis in die Gegenwart. Die Kanzler Kohl und Schröder verfolgten das Ziel einer "strategischen Partnerschaft" mit Russland. Merkel nahm das partiell zurück, hielt aber den Dialog zu Russland aufrecht und realisierte wirtschaftliche Großprojekte (Nord Stream 1 und 2).

Die widersprüchliche Ampelregierung unter Kanzler Scholz hat mit der Radikalität ihrer politisch-weltanschaulich getriebenen "Wende" überzogen und stürzt Deutschland in die Krise. Sie ist gezwungen, den Sanktions-/Wirtschaftskrieg gegen Russland und China abzuschwächen, letztlich aus ihm auszusteigen oder ihr eigenes Scheitern zu riskieren. Bei der notwendigen Korrektur gilt es anzuknüpfen an die erfolgreiche West-Ost-/Russland-Politik, in der Kontinuität bundesdeutscher Regierungen Brandt-Schmidt-Kohl-Schröder-Merkel (1969-2021). Deutschland im Bündnis mit Frankreich hat die Macht für eine souveräne EU-Politik und partielle Änderungen der Nato-Positionen.

Gegenwärtige Diffamierungskampagnen gegen diese mögliche Entspannungspolitik friedlicher Koexistenz und Wirtschaftskooperation sind ahistorische Demagogie von Bellizisten (Klartext: Kriegstreibern) und transatlantischen Politikern, von Meinungssöldnern in der Wissenschaft, in den Parteien und Massenmedien. Sie repräsentieren eine Minderheit und schaden Deutschland sowie der Europäischen Union.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – beide Kriegsparteien sind wohlbegründet keine Verbündeten, keine EU- und keine Nato-Mitglieder – ist es nicht wert, Deutschland und die EU-Integration in Krisen zu stürzen. Ohne die Beteiligung Deutschlands an eskalierenden Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung des korrupten ukrainischen Oligarchen-Kapitalismus, aber mit humanitärer Hilfe für die betroffene Bevölkerung, die Flüchtlinge und den Wiederaufbau, würde sich die Lage anders darstellen. Das war auch der Grund für den massiven Druck seitens der USA, Polens und der baltischen Staaten auf die schwache Ampelregierung, zur Beteiligung am militanten Sanktionsregime (ähnlich der Situation 1999, als die rot-grüne-Regierung völkerrechtswidrig am Kosovokrieg teilnahm).