Neue Unübersichtlichkeit

Mit dem Rückzug Stoibers ist die Wahlaufarbeitung nach der SPD nun auch bei den Unionsparteien angekommen, Müntefering will angeblich aber doch Vizekanzler werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Personalkarussell des designierten Kabinetts Merkel dreht sich weiter. Mit Edmund Stoiber ist ein gewichtiger Ministerkandidat abhanden gekommen, bevor er auch nur seinen Posten angenommen hat. Seine zunächst gegebene Begründung, mit dem Rückzug von Müntefering ist aus mehreren Gründen fadenscheinig. Zunächst hatte Müntefering seinen Rückzug aus dem Kabinett gar nicht erklärt, sondern nur gesagt, dass er seinen Eintritt in die Regierung überdenken werde. Zudem hätte ein Rückzug Münteferings eher eine Stärkung von Stoiber im Kabinett Merkel bedeutet. Auffällig war auch, dass sich Stoiber schon lange eine Rückzugsoption offen gelassen hat. Gegen den Willen der potentiellen Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten Huber und Beckmann hat Stoiber durchgesetzt, dass eine Entscheidung erst nach der Wahl der neuen Bundesregierung erfolgen darf. In der CSU sieht man seine Entscheidung, nicht nach Berlin zu gehen, als "nicht ganz glücklich".

Schon am 17. 10., als Angela Merkel ihre Ministerriege vorstellte, sahen die beiden nicht wirklich zufrieden aus. Bild: CDU/CSU

Stoibers jetziger Rückzug ist keine Solidarisierung mit Müntefering, der nun angeblich doch Vizekanler und Arbeitsminister werden will, sondern Teil der unionsinternen Aufarbeitung der Wahlergebnisse. Er erklärte daher schließlich, dass er selbst dann nicht mehr nach Berlin gehen werde, wenn Müntefering Vizekanzler bleibt. Stoiber steht schon länger in der Kritik. Seine Äußerungen in Bezug auf die Ostdeutschen sind ebenso wenig vergessen, wie sein Gebaren als Ministeranwärter, als er ohne Rücksicht auf Parteifreunde sein Ministerium vergrößern wollte. Schon auf dem Deutschlandtag der Jungen Union vor einer Woche bekam Stoiber mehr als Merkel den geballten Unmut der jungen Delegierten zu spüren.

Für die designierte Kanzlerin wird es jetzt von Interesse sein, ob es dabei bleibt oder ob die neue Unübersichtlichkeit weitere Kreise zieht. Merkel kann nur vordergründig als scheinbare Gewinnerin der Personalquerelen gelten. Schließlich scheinen beide Partner in der angestrebten Koalition geschwächt. Mit Stoiber ist auch der Mann wieder entschwunden, der als erster eine Debatte über ihre Weisungsbefugnis vom Zaum brach.

Jamaika-Koalition wieder im Gespräch

Andererseits wird auf einmal wieder offen über andere Koalitionsfarben gesprochen. Nicht nur FDP-Chef Westerwelle hat das Wort von der Jamaikakoalition wieder in den Mund genommen. Da will man natürlich um so offensichtlicher Handlungsfähigkeit demonstrieren und hat in der CSU mit Michael Glos sofort einen Stoiber-Ersatz ins Gespräch gebracht. Eben jenen Glos wollte Merkel aber schon vor zwei Wochen ins Kabinett holen und wurde damals von Stoiber ausgebremst, der mit Horst Seehofer einen erklärten Gegner von Merkels wirtschaftsliberaler Sozialpolitik im Kabinett etabliert hat.

Die Parteienvertreter müssen jetzt in einem Wettlauf mit der Zeit die angestrebte Koalition unter Dach und Fach bekommen. Je mehr in der Öffentlichkeit das Zustandekommen einer großen Koalition überhaupt in Frage gestellt wird, um so eher wächst bei den Partnern wieder die Lust am verlängerten Wahlkampf. Man kann schon jetzt beobachten, wie schwer es führenden Unionspolitikern vor der Kamera fällt, die Krise de SPD nicht in Wahlkampfmanier zu kommentieren, was für die andere Seite nicht anders sein dürfte.

Bis zum SPD-Parteitag in zwei Wochen dürften die Spekulationen über das Zustandekommen der großen Koalition weiter gehen. Schließlich ist noch unklar, ob es dort zu einer Erneuerung oder zu weiteren Zerwürfnissen kommt. Anders als 1995 steht kein Lafontaine mehr bereit, der die Partei zumindest kurzfristig begeistern und aus der Krise führen könnte. Wie groß die Konfusion in der Partei zur Zeit ist, zeigt sich bei den Schuldzuweisungen an die designierte Generalsekretärin Nahles, der vorgeworfen wird, aus Karrieregründen Müntefering gestürzt zu haben. Schon häufen sich die Spekulationen, dass sie wohl nicht Generalsekretärin werden wird, weil sie die dafür nötige Integrationsfähigkeit spätestens jetzt verloren habe. Sie selbst behält sich die Entscheidung noch vor.

In den Focus der Kritik ist auch die SPD-Linke Heidi Wieczorek–Zeul gerückt, weil sie nicht rechtzeitig ihr Amt als stellvertretende Parteivorsitzende zugunsten von Nahles freigemacht hat. Jetzt hat Wieczorek-Zeul angekündigt, den den SPD-Vorstand zu verlassen. Sofort stellt sich die Frage, ob sie dann nach einer solchen Desavouierung noch für das Amt als Entwicklungsministerium zur Verfügung steht und wie die Parteilinke darauf reagieren wird?

Es bleibt also spannend in Berlin. Derweil werden im Hintergrund auch mögliche Weichen für andere Koalitionskonzepte gestellt. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers meinte schon einmal, es sei derzeit "offen, ob es diese große Koalition gibt". Der stellvertretende CSU-Landesgruppenchef Gerd Müller findet offenbar wieder an Jamaica Gefallen. Auch FDP-Chef Westerwelle hat diese erneut ins Spiel gebracht. Noch versichert jedenfalls Grünen-Parteichef Bütikofer, es gäbe keinen Anlass, in neue Koalitionsverhandlungen zu treten.