"Nicht zu meinen Lebzeiten"

Merkels Problem: Sie kann nicht rechnen!

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Mit ihrer Aussage, dass es zu ihren Lebzeiten keine Eurobonds geben wird, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich gemacht, dass sie nicht rechnen kann. Stattdessen hat sie auf dem EU-Gipfel jetzt einer nahezu unlimitierten Bankenrettung zugestimmt, die wesentlich teurer ausfällt als eine Staatenrettung über Eurobonds. Mit ihrer Ablehnung von Eurobonds hatte sich derart verrannt, dass sie jetzt sogar einer Art Sonderwirtschaftszone für die Bankenwelt zugestimmt hat. Um nicht vollständig das Gesicht zu verlieren, wurde jetzt der Finanzindustrie eine Stellung eingeräumt, die Risiko und Verantwortung entkoppelt.

Nachdem auch Spanien offiziell um Hilfen für seine Banken gebeten hatte und in Italien die drittgrößte Bank Staatshilfen benötigte, geriet Merkel derart unter Druck, dass sie zustimmte, dass sich Banken direkt vom dauerhaften Rettungsschirm ESM mit Kapital versorgen können. Merkel hat sich mit ihren Positionen verkalkuliert. Sie konnte nicht erkennen, dass das Haftungsrisiko für die Banken wesentlich größer ist als dasjenige der Staaten. Während die Bilanzsummen der Banken der 5 Krisenländer bei etwa 10 Billionen Euro (davon sind 9.2 Billionen Bankschulden) liegen, wie Hans-Werner Sinn im Handelsblatt erläuterte, liegen die Staatsschulden dieser Länder bei lediglich 3.4 Billionen Euro.

Mit deutscher Großmannssucht wurden Eurobonds verhindert, mit der Konsequenz, dass die jetzt zu bezahlende Zeche wesentlich höher sein wird. Deutschland ist als Exportland einer der größten Profiteure der europäischen Binnenintegration und wäre mit Eurobonds wesentlich besser gefahren als eine fast unlimitierte Haftung für die südeuropäischen Banken zu übernehmen.

Kurskorrekturen sind notwendig

Will man die unlimitierte Haftung für Banken noch verhindern, ginge dies nur mit Eurobonds, die jedoch nach wie vor von der deutschen Regierung kategorisch ausgeschlossen werden. Die Kosten für angeschlagene Länder zu senken, wäre ein Ergebnis des Endes der Austeritätspolitik. Stattdessen wurde Merkel, die angetreten war, um zu sparen, während des EU-Gipfels über den Tisch gezogen. Anstatt eine langfristige Lösung zu suchen, die den Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa nach amerikanischem Vorbild ermöglicht hätte, wird jetzt der deutsche Staat noch viel tiefer in die südeuropäische Krise hineingezogen.

Mit der Bankenunion hat Merkel zwar ihre europäische Blockadepolitik beendet, aber die Lösung der Krise wird nun den deutschen Steuerzahlern etwa das Dreifache kosten, was diesen die Einführung der Eurobonds gekostet hätte. Wieder einmal zeigt sich: Wenn man die Lösung einer Krise unendlich lange hinauszögert, wird der Druck letztendlich so groß, dass man am Schluss zu einem noch fauleren Kompromiss gezwungen wird.

Mit ihrer Aussage, solange sie lebe, werde es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben, hat sie vor dem EU-Gipfel eine Art finanzpolitischer Kriegserklärung an den Rest von Europa herausgegeben und sich derart isoliert, dass sie am Schluss vor Monti, Hollande und Rajoy kapitulieren musste. Eine Aufgabe der Blockadehaltung gegen Eurobonds hätte Deutschlands Führungsrolle hingegen bei der Lösung der Krise unterstrichen. Bei jeder Rettungsaktion des ESM ist Deutschland jetzt mit 27 Prozent beteiligt.

Statt den Weg zu beschreiten, die Vereinigten Staaten von Europa zu bauen und europäische Anleihen einzuführen, glänzt die Kanzlerin weiter mit ihrer Versuchs- und Irrtumsmethode, die ihre vollständige Visionslosigkeit offenbart.

Der Merkel-Moment

Es gibt viele Parallelen zwischen dem Europa der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und heute. Auch damals schnellte die Arbeitslosigkeit auf ungeahnte Höhen.

Es ist das Verdienst von Charles Kindleberger in seinem Buch "World in Depression, 1929-1939" darauf hingewiesen zu haben, dass es Europa war, wo es zu den schlimmsten Verwerfungen im Rahmen der Großen Depression kam. Es gab damals keine europäische Führung und keine Zentralbank, die durch mutiges Eingreifen das Schlimmste verhindert hätte. Wenn in den Märkten Panik auftritt, fallen diese auseinander und kollabieren. Dies ging 2008 als der Lehman-Moment in die Geschichte ein.

Der Merkel-Moment kam, aber anders als erwartet. Die Bundeskanzlerin hat sich mit ihrer austeritätsorientierten Hegemonialpolitik gegenüber den Staaten grundlegend verrechnet und die Rechnung ohne die Bankenwelt gemacht. Vor lauter Fokussierung auf die Staatsschulden hat Frau Merkel jetzt nicht den Euro gerettet, sondern die Wallstreet und London. Sie hat unter dem Druck der Märkte jetzt zwar das Auseinanderbrechen des Euroraums verhindert, es jedoch versäumt, sich als dominante Wirtschaftsmacht in Europa zu etablieren, die die Interessen der kleineren Länder vertritt und somit zur Stabilisierung des Gesamtsystems als Geldgeber und Konsument beiträgt. Nach 1945, als Europa in Schutt und Asche lag, waren es die USA, die als stabilisierende Hegemonialmacht auftraten. Es sei hier auf Hyman Minskys Thesen verwiesen, wie man eine instabile Wirtschaft stabilisiert. Der Staat muss hierbei die Auswirkungen auf die reale Sphäre aufgrund einer sinkenden Investitionsbereitschaft durch eine anti-zyklische Fiskalpolitik mit Hilfe zusätzlicher, ausfallsicherer Staatsanleihen begrenzen. Nur dadurch lässt sich das Finanzsystem stabilisieren. Deshalb wären allein Eurobonds das adäquate Mittel, die Krise zu beenden. Merkel setzte jedoch nun sogar die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft, in dem sie nach dem Gießkannenprinzip dem Bankensektor einen Freibrief für Misswirtschaft einräumt. Statt einer wohlwollenden staatlichen Hegemonialmacht hat Merkel jetzt eine nicht-staatliche Finanzhegemonialmacht geschaffen, die auf dem Prinzip "Fass ohne Boden" beruht.

Instabilisierung durch extreme Zinsanstiege in Europa

Fazit: Münchhausens Kanzlerin

Letztendlich dauerte die Krise ab 1929 so lange, weil das internationale Wirtschaftssystem durch die britische Unfähigkeit und die fehlende amerikanische Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, immer tiefer in die Krise rutschte und letztendlich dadurch den Aufstieg von Adolf Hitler ermöglichte. Damals schon verfolgten die Staaten nur nationale Interessen wie heute auch Angela Merkel, was zu einer immer größeren Vertiefung der Krise führte.

Kindlebergers These von der "hegemonialen Stabilität" ist heute aktueller den je. Wenn die heutige oder zukünftige Bundesregierung erkennt, dass eine wohlwollende Europapolitik der stärksten Wirtschaftsmacht in Europa dazu führen wird, das aktuell instabile Gebilde zu stabilisieren, dann steht Europa vor einem neuen Wachstumsschub, der zu einem Abbau von Verschuldungen genutzt werden kann. In einer Krise zu versuchen, Schulden abzubauen, funktioniert nicht, da es die Instabilität des Wirtschaftssystems weiter erhöht.

Die Bundesrepublik Deutschland hat genügend Spielraum für eine stabilitätsorientierte Fiskalpolitik, die in enger Zusammenarbeit mit der EZB die Krise in Europa beenden kann. Sie muss sich nur endlich dazu bekennen, europäische Verantwortung zu übernehmen. Dem Bankensektor Unsummen hinterherzuwerfen, nur weil man die Staaten nicht unterstützen will, war die falsche Entscheidung. Merkels Versuch sich als "Eiserne Kanzlerin" im Stile von Margaret Thatcher zu etablieren, ist gescheitert. Um Bankenruns zu verhindern, hat Merkel klein beigegeben und die nachhaltige Lösung Eurobonds der sicherlich nicht besten Lösung geopfert. Damit wird sie am Schluss als Münchhausens Kanzlerin in die Geschichte eingehen.