»Nichts ist so alt, als dass es nicht erfunden werden könnte«

Documenta Plattform 1: Kunst und radikale Demokratie

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Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der elften Documenta, bleibt bei seiner Planung. In einem einleitenden Statement zu der in diesen Tagen in Berlin stattfindenden Plattform1 bestätigt er, dass sich durch die Anschläge auf World Trade Center und Pentagon seines Ermessens nach nichts an den zu behandelnden Problemstellungen geändert hat: Die "Infragestellung der ideologisch begründeten Hegemonie der Demokratie" durch globalen Kapitalismus, durch Zunahme von Nationalismen und Fundamentalismen, durch einen erweiterten Staatsbürgerbegriff und durch das unbewältigte Erbe der ehemals kolonisierenden westlichen Staaten, hat sich durch den Einsturz der beiden Türme und den seitdem stattfindenden Angriffen auf Afghanistan noch verschärft.

Diese elfte Documenta wird im Jahr 2002 als Ausstellung, wie alle vorhergehenden, in Kassel zu sehen sein. Doch das Veranstalterteam um Enwezor, welches Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sahat Maharaj, Mark Nash und Oktavio Zaya als Co-KuratorInnen umfasst, hat den Rahmen dieser klassisch-modernen Kunstveranstaltung erweitert: Die Documenta 11 besteht aus fünf sogenannten Plattformen, von denen vier die Form von Diskussions- und Vortragsveranstaltungen haben, während die Ausstellung 2002 als fünfte Manifestation eines Gesamtprozesses verstanden werden soll. Mit diesem Vorgehen verortet das Team die Documenta innerhalb der Tradition der British Cultural Studies und der daraus erwachsenen Disziplinen, die die bildende Kunst als eine Form unter anderen gesellschaftlich-kulturellen Äußerungen verstehen und im Austausch mit diesen lesen. Schon anfangs mehr als ein pures Statement, scheint dieser Vorgehensweise inzwischen eine fast ausschließliche Notwendigkeit zu eignen.

Der Titel der ersten Veranstaltung, Democracy Unrealized, oder Demokratie als unvollendeter Prozess, hat in den letzten Wochen retrospektiv einen prophetischen Charakter angenommen. Prompt streben die Zuschauer in die Veranstaltungen. Wo im März in Wien, bei dem ersten Teil dieser ersten Plattform, die Zahl der Besucher noch überschaubar war, füllt sich nun der Hauptsaal des Haus der Kulturen der Welt mit Leichtigkeit. Neben der durch die Ereignisse dieses Herbstes erhöhten Aufmerksamkeit liegt dies auch an der geringeren Anzahl von Veranstaltungen und der Wahl des Formates: In Österreich wurde noch ganztägig und in mehreren Panels getagt; in Berlin begnügt man sich mit einem Vortrag und anschließender kurzer Befragung der Geladenen. An illustren Gästen mangelte es auch in der Wiener Akademie der bildenden Künste nicht: Stuart Hall, Chantal Mouffe, Slavoj Zizek, Antonio Negri und einige andere bereiteten vor, was nun in Berlin unter forcierten Bedingungen fortgesetzt wird. (Prorgramm Plattform 1)

Demokratie der Minderheiten

Homi K. Bhabha wurde als erster Gast dabei ein wenig dramatisch inszeniert, unfreiwillig zwar und doch der Situation nicht unangemessen. Zwei Tage, nachdem die USA mit Hilfe der Briten ihr Bombardement Afghanistans begannen, schien es unangebracht, den Kulturhistoriker in ein Flugzeug zu setzen. Bahbhas Bild erschien, nachdem Enwezor gesprochen und Sahat Maharaj eine kurze Einführung zum Werk des Professors gegeben hatte, bei dem er studierte, auf einer circa zwölf Quadratmeter großen Leinwand. Das Videobild zu dieser Projektion wurde in der Universität von Harvard/USA aufgenommen, wo Bhabha Sprach-, Literatur- und Afrikanisch-Amerikanische Wissenschaft lehrt. So fehlte denn nur das Logo am unteren rechten Bildrand, und ein etwas ruhigerer Körpergestus, um in Bhabha den Reporter eines intellektuellen CNN zusehen; denn er bezog sich direkt auf Day 9-11, und an Verve fehlte es seinem Vortrag nun wirklich nicht.

Einleitend führte Bhabha aus, wie eben jener Sender CNN bereits am ersten Tag die überbordende Sprache von der Fremdheit der Kulturen und der Trennung in zivilisierte und unzivilisierte Welt ad absurdum führte: in den Bauchbinden zu den laufenden Reportagen wurden Titel all der Hollywood-Katastrophenfilme eingeblendet, die nun Realität geworden waren. Ähnliche Bilder wie die, die wir nun sahen, waren somit bereits Teil unserer eigenen Kulturproduktion. Wo viele PolitikerInnen und KommentatorInnen einen willkürlichen, selbstverständlich am "Westen" orientierten Maßstab für den Grad der Kultiviertheit anlegten, setzt Bhabha auf eine Differenzierung zwischen zivilisatorisch/kultureller Praxis und politischer Entscheidung. Nur die Wahrnehmung der terroristischen Taten als organisierte politische Aktion, so seine These, werde uns davor bewahren, selbst "in der zersetzenden Sprache der Tyrannen" zu reden. Einer Sprache, die ebenso das Bild von der feindlichen anderen Kultur zum eigenen Machterhalt benutzt.

Wenn es um die Kulturen geht, scheint es legitim, angesichts einer "Welt in Auflösung" (Okwui Enwezor) im kulturellen Bereich Antworten auf die "Fragen an die Demokratie" zu suchen. Für Homi K. Bhabha geht dies nicht ohne den Einbezug der Erfahrungen der kolonialen Geschichte, und vor allem der ihrer Opfer. Wenn Bhabha von einer transnationalen Gesetzgebung träumt, denkt er diese als Erfindung via einer Sprache der Minderheiten. Diese Sprache verändert sich ständig, denn auch die Minderheiten entstehen immer wieder neu im Strom der Migrationen, die von Arbeitssuche und anderen Bedingungen erzeugt werden. Dies hörend hofft man, dass auch das erdachte, utopische Gebilde zu fließend ist, um eine neue Hegemonialität in Form einer "Weltregierung" zu errichten.

Für Bhabha selbst, als in den USA ausgebildeten indischen Theoretiker, gilt dabei eine typische unauflösliche Ambiguität: Dort Minderheit, mag er woanders zu einer herrschenden Kaste gehören. Sein ehemaliger kolonialer Unterdrücker wiederum mag in England gleichzeitig liberaler Demokrat gewesen sein. Aus dieser Spannung will Bhabha eine Sprache der poesis, eine neue Demokratie erfinden lassen. Stellvertretend für diese Poesie lässt er den Dichter Derek Walcott sprechen, und bezieht sich auf dessen Wort, dass "nichts so alt ist, als dass es nicht erfunden werden könnte".

Der Poet und der Radikal-Demokrat

Auf Homi Bhaba folgte denn auch ein Poet, und auf diesen ein Politikwissenschaftler. Der Poet war Wole Soyinka, nigerianischer Schriftsteller, Theaterregisseur und Professor für vergleichende Literaturwissenschaften. Soyinkas ganzes Schaffen kann natürlich nicht losgelöst von der kolonialen Geschichte gelesen werden; die Kriege, die Diktatoren in Afrika, auch Afrikas wirtschaftliche und kulturelle Unsichtbarkeit in den letzten Jahren, unterbrochen nur durch missglückte oder unterlassene Hilfsexpeditionen, sind eine Folge der Kolonisation des Kontinents. Dass Afrika in dem aktuellen Konflikt um den Terror, vor allem aber in den Szenarien zur Konfliktlösung, in kaum einer Weise auftaucht, darf dazu gerechnet werden. Im schlimmsten Fall kann der Sudan demnächst zu den von den USA angegriffenen Ländern zählen.

Konsequent verzichtet Wole Soyinka auf eine Aktualisierung durch eine direkte Bezugnahme auf die Ereignisse in Nordamerika und Asien - der Konflikt ist in Afrika immer aktuell, selbst wenn es um Details wie die Psyche des Diktators geht, dessen Machtstreben laut Soyinkas ironischer Zuspitzung nur in seinem Wunsch nach einem pompösen Staatsbegräbnis begründet ist. Auf dem Weg zu dieser Pointe hat Soyinka da mal eben die Machtpsychographie des diktierten Staates analysiert, in einer leicht distanzierten, dramatisierenden Prosa, die verwundert. Immerhin wurde er 1967 in Nigeria während des Biafrakrieges für zweiundzwanzig Monate inhaftiert, ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren, weil er sich für eine Beilegung des Krieges einsetzte, und musste lange Zeit außerhalb Nigerias leben. 1986 wurde ihm als erste/r/m Afrikaner/in der Nobelpreis zuerkannt.

Repräsentanz und ihr Verhältnis zur Demokratie war dann das Thema Ernesto Laclaus, der als Erfinder des Post-Marxismus gilt und zusammen mit Chantal Mouffe den Begriff der radikalen Demokratie geprägt hat. Laclau hielt sich damit ebenfalls an sein signature-Thema, auf dessen aktuellen Bezug er vertrauen kann. Ein wenig hätten sich die fragenden Zuschauer am Ende aber doch Antworten auf die auftauchenden Fragen gewünscht; etwa, wie er seine Interpretation einer radikalen Demokratie mit der ATTAC-Bewegung in Verbindung brächte, die zeitgleich einen Kongress in Berlin abhielt. Oder ob Negri und Hardt mit ihrem "Empire" für einen neuen Anarchismus stünden?

Laclau blieb die Antworten auf solche Konkretisierungsversuche aufgrund (vorgeschobener?) Unkenntniss der Genannten, bzw. ihrer Inhalte schuldig, obwohl er vorher noch die Notwendigkeit einer Repräsentation zur Durchsetzung von Volkes Wille, auch durch die Generalisierung von Partikularinteressen, am Beispiel von Solidarnosc in Polen erklärt hatte. Vielleicht scheinen ihm die erwähnten Bewegungen als Zeichen nicht entleert genug, um als Symbol universalisiert zu werden. Denn die einzige Möglichkeit zur demokratischen Partizipation ist eine konstruierte Repräsentation innerhalb heterogener Gemeinschaft, so Laclau. Direkte Demokratie ist für ihn deswegen auch keine Option, da dieser Vorgang von homogen agierenden Mehrheiten ausgeht. Es scheint, dass dies von Laclau nachgerade kontraproduktiv bewertet wird, wenn er am Ende beiläufig einwirft, dass radikale Demokratie in unseren liberal genannten Gesellschaften nicht einlösbar ist. Man möchte diese beiden letzten Einwürfe gerne im Auge behalten, da unsere Demokratie gerade wieder auf dem Weg ist, ihr hegemoniales Modell auf andere Teile des Globus gewaltsam zu übertragen.

Plattform continued

In Berlin hat die Plattform1 der Documenta 11, trotz partieller Kritik und beschleunigt durch das politische Geschehen, auf ein Begehren nach intensiverem Austausch über politische Konzepte antworten können. Nawal El Saadawi, Zhiyuan Cui und Harbans Mukhia werden diese Diskussion am 27. und 30. Oktober in ihrer eigenen Interpretation fortsetzen und dürfen auf ein weiterhin gespanntes, ja, angespanntes Publikum rechnen. In Bezug auf die politische Lage hätte das Documentateam sicher liebend gerne auf die zusätzliche Aufmerksamkeit verzichtet. Ungeplant bestätigt die Situation aber die Notwendigkeit der anberaumten Diskussionsthemen. Ob es die Ausstellung in Kassel 2002 auch als ihre Aufgabe ansieht, darauf zu antworten; und ob sie dazu in der Lage ist, wird festzustellen sein.