"Normal ist der Tod"

Deutschland vor 80 Jahren, eine Rückschau: Ist die Erinnerung in Impulse der Menschlichkeit zu verwandeln?

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Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen.

Theodor W. Adorno

Deutschland 1935: Unter der Parole "Deutschland erwache" ist das deutsche Volk im Begriff zu marschieren. Erst in der HJ, dann im BDM, im Reichsarbeitsdienst, in der Deutschen Arbeitsfront, in der SA oder anderen Parteiverbänden und schließlich in der Wehrmacht.

Man trägt "Existenzknopf" (so Victor Klemperer, eine ironische Bezeichnung für das NSDAP-Parteiabzeichen); das Hakenkreuz blinkt "als Schlipsnadel oder auf der Brust". Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, verspricht eine "durchgreifende moralische Sanierung an unserem Volkskörper", salbadert von einer "Entgiftung des öffentlichen Lebens".

Verwaltung und Vernichtung

Der Faschismus wird durch die Angst und die scheinbare Solidarität aller Ausgebeuteten stabilisiert. Gestützt wird das System durch eine Bürokratie, die über Leben und Tod entscheidet. "Sie verschiebt die Verantwortung für das Scheitern von Existenzen (…) auf die staatliche Notwendigkeit."

Karl-Heinz Sahmel

Die Strategie geht auf, sie bedient sich in raffinierter Kombination der Theologisierung und Glorifikation der Partei im Zusammenspiel mit einer archaisch anmutenden Fetischisierung von Gefühlen und Begriffen. Eigentlich nur Parolen: Hitler und seine Paladine preisen stereotyp die "nationale Erhebung", verheißen "Arbeit und Brot", beschwören die Liebe des Deutschen zu seiner "Scholle", die sich bald als zu kleiner Lebensraum entpuppen wird - mit tödlichen Konsequenzen für Millionen.

In der praktischen Umsetzung der Ideologie gedieh hier jedoch eine schaurig effiziente, grotesk moderne Propaganda, mit deren Instrumentarien es gelang, dass alsbald… "die intellektuellen Funktionen zugunsten pseudomythischer, sogenannter Lebens- und Ursprungsmächte abdank(t)en".1

"Politische Lage trostlos"

Schon das Reichskonkordat (Juni 1933) und die Tatsache, dass es von der Kirche nicht aufgekündigt wurde, bietet ein Signum des neuen Geistes. Die Parteizugehörigkeit von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst war für die katholischen Bischöfe kein Kriterium schuldhafter Verstrickung mit dem NS-Regime. Mit der Bischofserklärung vom 28. März 1933 wurde Hitlers Ermächtigungsgedanke "auch 'geistlich' legitimiert und einer politischen Opposition der Katholiken gegen das neue Regime der innere Rückhalt entzogen".2

Hitlers Vorsicht und Rücksichtnahme gegenüber den Konservativen zu Anfang seiner Kanzlerschaft, d.h. auf dem Weg zur Monopolisierung der politischen Macht, war nur ein verschlagener Winkelzug. Die "Verschränkung" der NS-Bewegung mit etablierten Herrschaftsgruppen sollte vorerst und nur bis auf weiteres demonstriert werden.3

Schwarze Listen

Seit Tagen erschöpfende Hitze. Welch eine Hysterie in allen Worten und Taten der Regierung! Das ewige Androhen der Todesstrafe, das Festnehmen von Geiseln, neulich der Unterbruch allen Reiseverkehrs von 12-12:40 Uhr: "Fahndung auf staatsfeindliche Kuriere und Druckschriften in ganz Deutschland!"

Victor Klemperer am 28. Juli 1933

Im Frühjahr 1933 war die Reichsschrifttumskammer gegründet worden. Seit dem 1. April erscheinen schwarze Listen von Autoren und Büchern in der deutschen Presse. Druckwerke, die einen "undeutschen Geist" erkennen lassen, fallen pauschal unters Verdikt. Was "undeutscher Geist" ist, bestimmt die Reichsschrifttumsstelle, als "Freund des Lesers" gibt sie an, was zu lesen sei.

22. September 1933: Mit dem Reichskulturkammer-Gesetz werden die verschiedenen Einzelkammern eingerichtet: neben Schrifttum auch Presse, Rundfunk, Theater, Musik, Bildende Künste. Die Reichskulturkammer, deren Präsident ist Goebbels, dient der totalen ideologischen Überwachung.

Politische Lage trostlos, der Befehl an alle Beamten (und so auch an mich), mindestens im Dienst und an der Dienststelle den "deutschen Hitlergruß" zu benutzen. (…) "Es wird erwartet", dass man auch sonst diesen Gruß anwende, wenn man den Verdacht bewusster Ablehnung des neuen Systems vermeiden wolle (Geßlerhut redivivus).

Victor Klemperer am 20. Juli 1933 in seinem Tagebuch

Amtspflicht und Volksempfinden: Kurze Chronologie

Eine kurze und auszugsweise Chronologie - um das Jahr 1935 - auf dem Weg in die totale Diktatur4:

24.04.34: Der Volksgerichtshof mit Sitz in Nürnberg wird gegründet. Er war zunächst als Sondergericht für Hoch- und Landesverratsdelikte geschaffen. Mit Gesetz vom 18.04.1936 wurde er später im Sinne des Gerichtsverfassungsgesetzes als ordentliches Gericht etabliert. Danach auch zuständig für "schwere Wehrmittelbeschädigung", "Feindbegünstigung", "Spionage" und "Wehrkraftzersetzung". Mitglieder und Richter werden von Hitler persönlich benannt, Rechtsmittel gegen verkündete Urteile gab es nicht.

22.08.34: Die deutschen Beamten werden per Reichsgesetz auf Hitler vereidigt. Der Eid lautete: "Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflicht gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe."

16.03.35: Mit dem "Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht" wird die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt (verstößt gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages; am 24.08.36 per Erlass dann eine 24-monatige Wehrdienstzeit eingeführt).

13.04.35: Nach einem Erlass des Reichsjustizministeriums können Gefangene nach Verbüßung ihrer Haft unmittelbar und auf unbegrenzte Zeit in ein Konzentrationslager verbracht werden.

05.07.35: Das Reichsstrafgesetzbuch wird novelliert: Urteile in Strafprozessen können, ohne gesetzliche Grundlage, fortan auf der Basis "gesunden Volksempfindens" gefällt werden. 16.07.35: Hanns Kerrl, Vizepräsident des Deutschen Reichstages, wird von Hitler zum Minister des neu geschaffenen Ministeriums für Kirchenfragen (bis 13.12.41, danach unbesetzt) bestellt.

18.08.35: Verbot sämtlicher Freimaurerlogen.

29.04.36: Im "Völkischen Beobachter" listet Gestapo-Führer Reinhard Heydrich Gruppen auf, die als Feinde des Reiches anzusehen sind, u.a. Juden, Freimaurer, Kommunisten, politisch aktive Geistliche.

01.05.36: Ab sofort bekommt jedes Brautpaar nach der Trauung eine Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf".

24.12.36: Der anlässlich des Weihnachtsfestes 1936 von den katholischen Bischöfen verlesene Hirtenbrief enthält einen Aufruf zur Pflicht, "das Oberhaupt des Deutschen Reiches (in seinem Kampf gegen den Kommunismus/Bolschewismus) mit allen Mitteln zu unterstützen".