"Nur Horrorgeschichten oder Jubelmeldungen über Krebs"

Der Schweizer Onkologe Franco Cavalli über den medialen Umgang mit Krebs, Industrielobbys und notwendige Veränderungen bei Pharma-Patenten

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Franco Cavalli, geboren 1942 in Locarno, Schweiz, arbeitet derzeit als Chefarzt für Onkologie in Bellinzona im Kanton Tessin. Er lehrt zudem an den Universitäten Bern und Varese. Cavalli ist Gründer und Direktor des Onkologischen Instituts der italienischsprachigen Schweiz mit Sitz in Bellinzona und war Präsident der Internationalen Vereinigung gegen Krebs sowie der Krebsliga Schweiz. Von ihm erschien zuletzt das Buch "Krebs: Die große Herausforderung".

Herr Cavalli, ein prominentes Internet-Versandhaus listet fast 10.000 deutschsprachige Titel zum Thema Krebs auf, unter ihnen viele Ratgeber. Weshalb nun Ihr Buch?

Franco Cavalli: Es stimmt, dass schon recht viele Bücher über Krebs auf dem Markt sind. Als man mich gefragt hat, ob ich nicht noch ein Buch schreiben möchte, habe ich mir diese Frage also auch gestellt. Andererseits behandeln viele der publizierten Bücher nur einen Teil des Problems. Es gibt Patientengeschichten, Berichte über Prominente, wissenschaftliche Informationen für Laien oder Abhandlungen über alternative Therapien. Aber es gibt kaum ein Buch, das versucht, diese verschiedenen Aspekte verständlich zusammenzufassen. Vor allem habe ich angestrebt, das Thema gesellschaftlich zu beleuchten. In dem Buch werfe ich auch einen Blick darauf, was in den Entwicklungsländern geschieht.

Franco Cavalli. Bild: F. Cavalli

Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss schreibt im Vorwort zu Ihren Buch, man sei dabei, den Kampf gegen Krebs wissenschaftlich zu gewinnen, "ihn jedoch auf globaler Ebene zu verlieren". Dient die Wissenschaft nicht allen?

Franco Cavalli: Nicht nur in der Laienpresse herrscht weiterhin die Meinung vor, dass Krebs nur ein Problem der reichen Länder ist. Dabei wird offensichtlich übersehen, dass Krebs schon längst ein Problem auch der armen Länder ist. Und dass sich das Problem dort massiv verschärft. Das hat verschiedenen Gründe: Es gibt in den Staaten des Südens kaum Prävention oder ein System der Früherfassung von Patienten. Auffallend ist, dass der rasche gesellschaftliche Wandel in Schwellenstaaten, man könnte es die Verwestlichung nennen, neue Tumorarten entstehen lässt, während die alten weiterhin existieren.

Wegen der international durchgesetzten Sparprogramme funktioniert die staatliche Gesundheitsversorgung immer weniger

Was sind denn alte Tumorarten?

Franco Cavalli: Bei Gebärmutterhalskrebs oder Magenkrebs etwa handelt es sich um Tumorarten, die bei uns in den Industriestaaten im Verschwinden begriffen sind. Hinzu kommen neue Tumorarten etwas durch Genussmittel oder eine Umstellung der Ernährung. Das Problem in den armen Staaten ist, dass es heute eine größere Bandbreite an Krebs gibt, sie zugleich aber einen sehr begrenzten Zugang zu entsprechenden Pharmazeutika haben.

Dabei ist das Schlüsselelement im Kampf gegen Krebs ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wegen der international durchgesetzten Sparprogramme aber funktioniert die staatliche Gesundheitsversorgung generell immer weniger. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass die Gesundheitssysteme der Entwicklungsländer in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren weitgehend zerstört wurden. Das sieht man vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dort ist der Abbau der staatlichen Gesundheitsversorgung einer der Gründe, weshalb die durchschnittliche Lebenserwartung im genannten Zeitraum um sechs bis sieben Jahre abgenommen hat. Hinzu kommt das Problem, dass neu entwickelte Medikamente für die Krebsbehandlung irrsinnig teuer sind und diese Länder niemals in der Lage sein werden, diese Arzneimittel zu bezahlen.

Sie wollen mit Ihrem Buch eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen. Zugleich kritisieren Sie den medialen Umgang der Medien mit der Krankheit. Weshalb?

Franco Cavalli: Sehen Sie, ich organisiere mitunter ja auch Fachkongresse zum Thema Krebs. Wenn dann Journalisten kommen, sind sie in der Regel an dem Schicksal einer prominenten Person interessiert oder an einem Aufsehen erregenden wissenschaftlichen Durchbruch. Die Bereitschaft, den Medienkonsumenten zu erklären, was Krebs eigentlich ist, ist kaum vorhanden. Man liest entweder Horrorgeschichten oder Erfolgsgeschichten. Aber den Menschen wird eben nicht erklärt, wie sie sich mit der Krankheit sinnvoll auseinandersetzen können.

Auf Umweltfaktoren wird zu wenig geachtet

Wissenschaftler müssen ihre Forschungen aber auch direkt veröffentlichen, um Gelder zu akquirieren und um sich im Wettbewerb um Drittmittel zu behaupten. Inwieweit beeinflusst dieser Druck, in der Öffentlichkeit zu stehen, die Forschung und die öffentliche Debatte?

Franco Cavalli: Das ist in der Tat eine weitere Plage des jetzigen Systems, in dem wir leben und arbeiten. Man kann dieses Problem deutlich nachvollziehen: Die großen Forschungseinrichtungen in Europa oder den USA setzen zur Vergabe von Finanzmitteln gemeinhin Deadlines. Unmittelbar vor diesen Stichtagen mehren sich dann die Pressekonferenzen, auf denen Wissenschaftler über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Durchbruch berichten. Häufig sind das Resultate, die noch nicht in wissenschaftlichen Medien publiziert und diskutiert worden sind, die womöglich also noch keine hinreichende Kontrolle durchlaufen haben. Doch dieses rasche Hinausposaunen ist zu einer Strategie vieler Forscher geworden, um die Geldgeber unter Druck zu setzen der zumindest in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Und wie kann man diesem Trend entgegensteuern?

Franco Cavalli: Nun, zunächst ist die Rolle des Staates in der Krebsforschung zurückgegangen, private Geldgeber spielen deswegen eine größere Rolle. Der Konkurrenzkampf ist größer geworden. Und dieser Konkurrenzkampf wird häufig nicht mehr mit wissenschaftlichen Methoden, sondern auf die beschriebene Art und Weise ausgetragen. Da müsste man ansetzen.

Auf der einen Seite steht die Pharmalobby, auf der anderen Seite die Industrielobby. Sie führen in Ihrem Buch das Beispiel von Asbest an. Hätten Ärzte hier nicht mehr warnen müssen?

Franco Cavalli: Mediziner, aber auch Behörden hätten in diesem Fall viel früher einschreiten sollen, ohne Zweifel. Es gab ja durchaus Erkenntnisse über die Gefährlichkeit dieser Substanz. Bereits vor 80 Jahren hatten einige Versicherungsgesellschaften Policen für Industriebetriebe abgelehnt, die mit Asbest zu tun hatten. Das belegt, dass schon damals entsprechende Befürchtungen bestanden. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Forschung dann systematischer betrieben. Dahinter steht ein generelles Problem: Bis heute wird viel im Pharmabereich geforscht, aber die Umweltfaktoren, die zu Krebs führen können, sind viel weniger Gegenstand wissenschaftlichen Interesses.

In Bezug auf Asbest tragen wir Ärzte sicherlich eine Mitschuld. Ich erinnere mich, dass die Debatten selbst in der Schweiz bis in die vergangenen achtziger Jahre andauerten. Und in Kanada ist Asbest bis heute nicht verboten. Gerade in den letzten Monaten aber haben Mediziner in Kanada auch mit öffentlichen Kundgebungen auf die Gefahr durch Asbest hingewiesen. Sie wollen die kanadische Regierung dazu zwingen, diesen Stoff im Land nicht mehr produzieren zu lassen und ihn vor allem auch nicht mehr in Länder des Südens zu exportieren...

In der Medizin besteht ein auf Europa und die Industriestaaten zentriertes Weltbild

... wo dieser Baustoff natürlich auch verheerende Folgen hat. Dennoch wird Krebs weiterhin vor allem als Problem der Industrieländer gesehen. Im Süden vermutet man die verheerenden Tropenkrankheiten wie Malaria oder HIV/Aids. Besteht diese Trennung tatsächlich?

Franco Cavalli: Nein, diese Trennung besteht nicht. Die Meinung existiert aber, weil wir in der Medizin ein auf Europa und die Industriestaaten zentriertes Weltbild haben. Deswegen wurde die Bedeutung von Infektionskrankheiten bei der Entstehung von Krebs über lange Zeit hinweg unterschätzt. Heute weiß man es besser. Weltweit sind 15 Prozent der Krebserkrankungen infektionsbedingt. In den Ländern südlich der Sahara aber sind es rund 70 Prozent. In Staaten wie der Schweiz oder Neuseeland beträgt diese Quote zwei bis drei Prozent.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang der ungleiche Zugang zu Medikamenten?

Franco Cavalli: In Bezug auf Krebs befinden wir uns in einer dramatischen Situation. Das ist im Grunde vergleichbar mit dem Kampf gegen HIV und Aids vor wenigen Jahren. Damals wurde zum Beispiel in Südafrika das Schweizer Pharmaunternehmen Roche auf juristischem Weg dazu gezwungen, auf seinen Patentschutz zu verzichten und die Produktion von Nachahmerpräparaten, von sogenannten Generika, zu akzeptieren. Derzeit laufen in Indien ähnliche Prozesse zwischen den Behörden des Landes und dem Pharmakonzern Novartis, der mit Verweis auf die Doha-Abkommen versucht, die Produktion von Generika zu verhindern.

Ich denke, dass es in den Staaten des Südens derzeit hunderttausende Krebspatienten gibt, die sich keine adäquaten Medikamente leisten können. Dieses Dilemma, diese globale Kluft wird umso größer, je besser und effektiver die Krebsmedikamente werden. Solange wir unfähig waren, Krebspatienten zu heilen, spielte das keine sehr große Rolle. Heute können wir aber viele Tumoren heilen und in diesem Maße wird es wichtiger, auch den Menschen in Entwicklungs- und Schwellenstaaten einen Zugang zu bezahlbaren Arzneimitteln zu gewähren. Man muss sich vorstellen, dass in einigen dieser Staaten die Regierungen 50 Franken (rund 41 Euro) pro Kopf für das Gesundheitssystem aufwenden. Wenn die Behandlung mit einem effizienten Krebsmedikament wie bei den jüngsten Präparaten bis zu 10.000 Franken (knapp 8.260 Euro) pro Monat kostet, dann ist diese Behandlung natürlich unerschwinglich.

Welche Bedeutung spielen in diesem Zusammenhang Generika aus Schwellenländern wie Indien oder Südafrika?

Franco Cavalli: Es ist ein Lichtblick, dass es dieses Angebot gibt. Nicht nur aus den genannten Staaten, sondern auch aus Ländern wie China oder Kuba. Aber dieses Angebot schafft keine nachhaltige Lösung. Am Ende kann es nur darum gehen, die geltenden Patentschutzrichtlinien abzuschaffen. Diese Debatte wird früher oder später auch uns hier in den reichen Staaten betreffen.

Auch der Nobelpreisträger und US-Ökonom Joseph Stiglitz hat in einem Artikel bekräftigt, dass das aktuelle System mit Patentschutz und unkontrollierter Preisentwicklung nicht mehr zu halten ist. Selbst die reichen Staaten - und diese Debatte hatten wir in der Schweiz - werden die Preise über kurz oder lang nicht mehr bezahlen können. Stiglitz kommt zu dem Schluss, dass wir das geltende Pharma-Patentrecht abschaffen müssen.

Wenn man die Konzerne nicht verstaatlichen will, muss man ein anderes Modell anwenden. So wäre es zum Beispiel möglich, dass staatliche Stellen Forschungsergebnisse aufkaufen. Und mit einer angemessenen Entschädigung, nicht zu den von den Konzernen diktierten Preisen. Vor allem sollte die medizinisch-wissenschaftliche Beurteilung der Wirksamkeit am Patienten nicht von den Pharmakonzernen betrieben werden, sondern in staatlicher Hand bleiben.

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