Ob unschuldig oder nicht, ist nachrangig

Grafik: TP

Wer eines Sexualverbrechens bezichtigt wird, dessen Leben wird sich von Grund auf verändern

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Sexualstraftaten hinterlassen Opfer - das ist eine Binsenweisheit. Doch Falschbeschuldigungen hinterlassen ebenso Opfer, was aber gerne als zu zahlender Preis für einen fairen Umgang mit Menschen, die von sich sagen, Opfer geworden zu sein, angesehen wird. Zerlina Maxwell aus den USA schrieb in ihrem Plädoyer für eine fehlende Skepsis bei angezeigten Sexualstraftaten, dass ein zu Unrecht beschuldigter Mensch ja doch eher geringe Beeinträchtigungen zu erwarten hat und wog dies mit den Folgen für ein tatsächliches Opfer ab, dem nicht geglaubt wird.

Diese Verfahrensweise ist falsch, da sie schon am Anfang von einer falschen Prämisse ausgeht. Es ist möglich, jemanden ernstzunehmen, aber gleichzeitig auch Distanz zu wahren und weder den Beschuldigenden noch den Beschuldigten sofort in eine Kategorie einzuordnen. Die obige Kommentierung Frau Maxwells aber suggeriert, es sei nur möglich, entweder das Opfer ernstzunehmen oder aber den Beschuldigten fair zu behandeln - sie schafft also eine Scheinrealität, in der es nur ein "entweder - oder" gibt und ein "sowohl als auch" von vorne herein als unmöglich angesehen wird. Dies hat Konsequenzen auf die gesamte weitere Argumentation, da die Seiten schon von Anfang an gewählt sind und auch jeder, der nicht eine Seite wählt, wahlweise als Sympathisant oder Kontrahent angesehen wird.

Ein Leben, das sich komplett verändert

Die Konsequenzen, die ein zu Unrecht wegen einer Sexualstraftat bezichtigter Mensch zu erwarten hat, beginnen ab dem Moment, ab dem die Beschuldigung ausgesprochen wird. Wie bei der Büchse der Pandora ist es danach nicht mehr möglich, diese Folgen rückgängig zu machen. Es kann lediglich darauf gehofft werden, dass die eine oder andere Entwicklung nach einem Freispruch rückgängig gemacht wird. Die Gesamtentwicklung jedoch bleibt - und es ist (gerade da gerne salopp angenommen wird, es ginge eher um Lapallien) daher wichtig, von Zeit zu Zeit auch an Hand von prominenten Fällen aufzuzeigen, wie sich das Leben von Beschuldigten verändert.

Es bedarf keiner Sympathie gegenüber Prominenten, um zu sehen, wie sich schon ein Verdacht auswirkt und wie schnell sich auch Medien auf jeden kleinen Infoschnipsel stürzen - egal ob sie hinterher in kleinen Lettern eine Gegendarstellung drucken (müssen) oder nicht. Wer wie Zerlina Maxwell die Folgen bagatellisiert, handelt unmenschlich:

"Der Verdächtige würde eine raue Zeit erleben. Vielleicht wird er vom Dienst suspendiert/vorübergehend freigestellt, Freunde bei Facebook werden ihn ggf. von ihrer Freundesliste streichen. Im Falle Bill Cosbys müssen wir vielleicht damit aufhören, seine Shows zu sehen, seine Bücher zu lesen oder Tickets für seine Stand-Up-Comedy zu kaufen. Aber Falschbeschuldigungen sind äußerst selten und Fehler können auch ungeschehen gemacht werden - durch Ermittlungen, die den Verdächtigen vom Verdacht freisprechen. Dies gilt gerade dann, wenn die Ermittlungen schnell vonstatten gehen."

(Zerlina Maxwell)

Bereits die Annahme, dass die "raue Zeit" eher in einer Suspendierung, einer gelöschten Freundschaft auf Facebook oder ähnlich Banalem besteht, lässt keine Fragen offen. Hier hat jemand nicht verstanden, welche Folgen tatsächlich entstehen bzw. verschließt sich diesem Wissen.

Wer die aktuellen Interviews mit Jörg Kachelmann liest, der stellt fest, dass sich hier jemand nach seinen Erfahrungen während des Prozesses gegen ihn, ähnlich verhält wie manch übervorsichtiger Mensch in den USA:

Betritt eine Frau den Aufzug, so Kachelmann, würde er diesen sofort verlassen. Kämen viele Menschen auf ihn zu, so würde er sich unbehaglich fühlen, weil ihn dies an die Zeit erinnere, in der ihn Journalisten in der Tiefgarage auflauerten, er quasi zum Freiwild für die Medien wurde. Sein ehemaliger Arbeitgeber habe während des Prozesses stets die mediale Wirkung im Auge gehabt. Die Angst davor, was Menschen denken könnten, wenn sie ihn bei der ARD im Fernsehen sähen, war zu groß, um ihm weiterhin seinen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Ein Verhalten, das bei Sexualstraftatsbeschuldigungen oft zu finden ist.