Österreich: Rechtsextremismus nimmt erheblich zu

Der Verfassungsschutzbericht 2015 und Einschätzungen: "Es kommt zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft."

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Mit dem Zuzug der Hundertausenden, die über die Westbalkanroute nach Deutschland einreisten, rückte Österreich neu in die Aufmerksamkeit der hiesigen Öffentlichkeit. Das Interesse daran, wie Österreich mit den Flüchtlingen und Migranten umgeht, war groß, umso mehr, als sich ein Kurswechsel vollzog: Der sozialdemokratische Kanzler Faymann scherte aus der "Koalition der Willigen" aus, die auf Merkels Linie lag, und schwenkte über zu einer Politik der Abriegelung. Die Balkanroute wurde auf Wiener Initiative geschlossen.

ÖVP-Politiker spielten beim Kurswechsel eine wesentliche Rolle, mit teilweise harschen Äußerungen. Kritiker warfen ihnen vor, dass sie damit Fremdenfeindlichkeit und insgesamt eine rechte Stimmung bedienten. Seit den Erfolgszeiten von Jörg Haider (FPÖ) ist das kein Vorwurf, der ins Leere geht. Das sensationelle Abschneiden des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer bei der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl (Österreich nach der Erdrutschwahl) wurde auch hierzulande mit Nervosität registriert. Das Wort vom Rechtsrutsch machte die Runde.

Nimmt man den Verfassungsschutzbericht, der gestern in Wien vorgestellt wurde, als Maßstab, so ist die Beunruhigung über politische Entwicklungen in Österreich nicht grundlos. Das liegt nicht nur an den Zahlen, die einen "dramatischen Anstieg" der Tathandlungen mit rechtsextremistischem, fremdenfeindlichem bzw. rassistischem oder antisemitischem Hintergrund verzeichnen - nämlich um 54,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (von 750 auf 1.1561. Die Zahlen sind ein Signal.

Xenophobe Phänomene und eine Dynamik zur Gewaltbereitschaft

Beunruhigendes zeigt sich aber vor allem an den Beobachtungen und Lageeinschätzungen, die im Verfassungsschutzbericht in einem eigenen Fachbeitrag unter dem Titel "Xenophobe Phänomene: Asylfeindlichkeit als Ausdrucksform fremdenfeindlicher Polarisierung" (S.42 im PDF) zu finden sind.

Dort ist von einer Dynamik der Gewaltbereitschaft die Rede. So ist dort zu lesen, dass asylfeindliche Tathandlungen sich in der ersten Jahreshälfte 2015 "nahezu ausschließlich" auf verbale Angriffe (Drohungen, Beschimpfungen und Verhetzungen im und außerhalb des Internets) beschränkten, während sich am Jahresende mit dem Anstieg einschlägiger Tathandlungen auch eine "erweiterte Dimension durch konkrete Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte und Angriffe auf Asylwerbende" zeigte. Am Ende des Kapitels steht die Aussicht, dass sich die Verfassungsschützer auf mehr Gewalt in politischen Auseinandersetzungen gefasst machen:

Die merkbare Steigerung der Provokationsfreude und Aggression von fremden- und asylfeindlichen Bewegungen bei öffentlichen Zusammentreffen mit linken bzw. Pro-Asyl-Aktivisten lässt für die Zukunft den Einsatz physischer Gewalt als realistisches Szenario erwarten.

Interessant ist die Rolle, die den linken Aktivisten zugemessen wird. Das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) stellt in seinem Jahresbericht nämlich einmal fest, dass die "Tathandlungen" und die Anzeigen im linksextremen Spektrum gegenüber dem Vorjahr gefallen sind (die Tathandlungen von 371 auf 186, die Anzeigen von 545 auf 312). Zum anderen wird die Aufteilung bzw. Zersplitterung der Szene in einen marxistisch/leninistisch/trotzkistischen Bereich und ein autonom-anarchistisches Lager hervorgehoben.

Aber im "Lagebild Linksextremismus" wird auf ein Phänomen hingewiesen2 , dass die szeneinternen "Differenzen, Animositäten und Spaltungen" überwindet, wenn auch nur temporär:

"Antifaschismus" war erneut der Themenbereich mit dem größten Mobilisierungspotenzial.

Zwar ist im Weiteren lediglich von Protesten gegen radikale und extremistische Gruppierungen, wie auch gegen im Parlament vertretene Parteien (ohne sie zu nennen) die Rede, also nicht von Gewalt. Aber, wie das vorangegangene Zitat zeigt, befürchten die Verfassungsschützer, dass sich dies bei künftigen Auseinandersetzungen ändern könnte.

Polarisierung der Gesellschaft

Der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Konrad Kogler, Chef der österreichischen Polizei, spannt den Bogen noch weiter. Die Dynamik einer Polarisierung beschränkt sich seiner Auffassung nach nicht auf Exponenten radikaler Strömungen, sondern umfasst auch Milieus der Mitte: "Es kommt zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft", wird seine Einschätzung vom Medium diepresse.com wiedergegeben.

Auch im Verfassungsschutzbericht finden sich Stellen, die darauf verweisen, dass es eine "neue Rechte" gebe, die sich popkulturell gebe und Anschluss zur Mitte der bürgerlichen Gesellschaft hat. Worauf Medien wie die genannte presse.com, aber auch der Standard hinweisen wird hier, ohne sie ausdrücklich zu nennen, auf die Identitären (vgl. Die Gewalt der Identität) angespielt.

Vor allem die "Neue Rechte" ist der aktuelle Versuch, mit Hilfe von Internetauftritten und aktionistischen Handlungen eine "Popkultur" mit rechtsextremen Inhalten für Jugendliche und junge Erwachsene zu entwickeln. Sympathisanten und Aktivisten der "Neuen Rechten" und unterschiedlichen fremden-, islam- und asylfeindlichen Gruppierungen und Bewegungen legen in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung Wert auf rassismusfreie und nicht verhetzende Terminologien. Ihr Ziel ist es, fremdenfeindliche und Ängste generierende Themen in der "Mitte der Gesellschaft" zu verbreiten.

Von Relevanz ist das Phänomen für die Verfassungsschützer vor allem im Zusammenhang mit "Migration und Flüchtlingsproblematik". Die Asyl- und Flüchtlingsthematik habe im Vorjahr "zu einer deutlichen Entfesselung von fremdenfeindlichen Aggressionen und Ressentiments geführt", heißt es in dem Bericht mit der Ergänzung, dass dies auch noch "kaum bis schwach ideologisierte Personenkreise" betreffe.

Gezielte aktionistische Agitationen und Mobilisierungen

Durch "gezielte aktionistische Agitationen und Mobilisierungen" in diesem Kontext hätten die neuen Rechten eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, statuiert der Bericht. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass es einen "signifikanten Anstieg von Mitgliedern und Sympathisanten" gebe.

Die Verfassungsschützer räumen ein, dass sie noch kein Raster oder Muster gefunden haben, um den "angeworbenen Personenkreis" genauer einzuordnen.

Der angeworbene Personenkreis entspricht bislang keiner bestimmten einschlägig auffälligen Gesellschaftsschicht. Es wird penibel darauf Bedacht genommen, dass das Erscheinungsbild (z. B. Haarschnitt, Tätowierungen und Kleidungsstil) keine Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene erkennen lässt. Ausschreitungen und Gewaltaktivitäten sowie strafrechtlich relevante Tatbestände bei Veranstaltungen und/oder Kundgebungen werden möglichst vermieden. Auf diese Weise soll nach außen der Anschein gewahrt werden, dass es sich um eine moderate "Bürgerbewegung" handle, die sich lediglich der Sorgen und Ängste der Bürger annehme.

Die Gewaltbereitschaft zeige sich dann beim Zusammentreffen mit dem linken Spektrum. Dann standen die Sicherheitsbehörden 2015 vor "besonderen Herausforderungen", heißt es dazu im Verfassungsschutzbericht. Beobachtet wird darüber hinaus, dass im Unterschied zur "älteren Rechten" bei der neuen Frauen vermehrt in Erscheinung treten. Allerdings wird das dadurch relativiert, dass es sich dabei um Einzelfälle handele.

In Österreich umfasst die rechtsextreme Szene heterogene Gruppen von Akteuren, die sich durch ihre ideologischen Ausrichtungen voneinander unterscheiden. Darüber hinaus ist ihnen allerdings gemeinsam, dass diese Szenen überwiegend aus männlichen Aktivisten bestehen. Die Rolle der Frau beschränkt sich vorwiegend auf die der Sympathisantin und der "Mitläuferin". Im Jahr 2015 traten allerdings Frauen in Einzelfällen bei den "Neuen Rechten" vermehrt in Erscheinung.

Nicht unterschlagen werden sollte, dass der Verfassungsschutzbericht die größte Bedrohung für die innere Sicherheit in Österreich im religiös motivierten islamistischen Extremismus und Terrorismus sieht. Berichtet wird von 259 Personen, die aus Österreich in den Dschihad nach Syrien oder den Irak gereist sind oder dorthin reisen wollten.

41 davon wurden an der Ausreise gehindert, 79 kehrten nach Österreich zurück, 43 wurden vermutlich im Krisengebiet getötet.