Österreich erhält "Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft"

Neugegründetes Forschungsinstitut an der Kepler Universität Linz/OÖ soll den Zusammenhang zwischen der Krise und der herrschende ökonomische Lehre untersuchen

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Bei der Eröffnungskonferenz des ICAE (Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft) bestand weitgehende Einigkeit, dass die herrschende ökonomische Lehre kaum zur Lösung der anstehenden Probleme beitragen könne. Viel mehr habe die weltweit dominierende „neoliberale“ Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre wesentlich zu den Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten beigetragen. Das von der Stadt Linz und der Arbeiterkammer finanzierte ICAE versucht daher eine „Gesamtsicht der Wirtschaft und ihrer wechselseitigen Verschränkungen mit den Feldern Wissenschaft, Medien und Politik“ und verfolgt einen dezidiert „interdisziplinären“ und „heterodoxen“ Ansatz. Telepolis sprach mit dem Ökonomen Walter Otto Ötsch, dem Leiter der in Linz/Österreich angesiedelten interdisziplinären Forschungseinrichtung.

Spe sprechen von einer Gesamtanalyse? Was hat die Ökonomik bislang ignoriert?

Walter Ötsch: Ignoriert ist vielleicht das falsche Wort. Laut Schumpeter geben die Ökonomen allenfalls die Stimmung der Zeit wieder, in der sie leben. Diese Stimmung war in den vergangenen drei Jahrzehnten optimistisch und marktgläubig. Insofern haben sich weite Teile der Wirtschaftswissenschaft selbstzufrieden mit sich selbst befasst. Die Mikroökonomie ist über die Betriebswirtschaft aufgewertet worden, und makroökonomische Ansätze, die der Neoklassik verpflichtet waren, haben es tunlichst unterlassen, ihre Ansätze soziologisch und empirisch zu erden. So ist eine Diskrepanz zwischen ökonomischer Theorie und wirtschaftlicher und sozialer Realität entstanden. Weshalb es kein Wunder ist, dass kaum ein Ökonom den Crash 2008 hat kommen sehen.

Jetzt müsste allen klar sein, dass eine Ökonomie geboten ist, die Lösungen für die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Globalprobleme anbietet. Die Ökonomik ist ja Teil des Problems geworden, sie muss wieder Teil der Lösung werden. Dazu muss sie sich wieder in das Ensemble der anderen Sozialwissenschaften einbetten. Nur so sind Gesamtanalysen, die an Lösungen von Großproblemen arbeiten, überhaupt denkbar.

Wie sehen Sie sich und das ICAE innerhalb der herrschenden Lehre?

Walter Ötsch: Das ICAE will im Sinne einer Sozialökonomik, die an Max Weber, Joseph Schumpeter und Otto Neurath anschließt und Ansätze aus dem breiten Feld „heterodoxer“ Ökonomik miteinbezieht, interdisziplinär forschen und entsprechende Forschungen fördern. Natürlich ist der Ansatz kritisch, und der Mainstream der aktuellen ökonomischen Lehre wird in Frage gestellt. Das ICAE sieht sich als Forschungsplattform, in der Modelle entworfen werden, wie die gegenwärtige Gesellschaftsformation aussehen könnte und welche Strömungen zu den aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen und Problemlagen geführt haben. Es wäre falsch zu sagen, dass die herrschende Lehre vollständig verworfen wird. Aber sicher ist, dass das Institut einen Beitrag für einen Paradigmenwechsel in den Wirtschafts- bzw. Sozialwissenschaften leisten möchte.

Gibt es bereits einen Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften – bzw. was wären allenfalls die Voraussetzungen?

Walter Ötsch: Nein, der eben angesprochene Paradigmenwechsel ist allenfalls schemenhaft erkennbar. Auch haben die Eliten die Krise bis jetzt erstaunlich schadlos überstanden. Bisher gab es eine Staatsintervention zur Rettung der Banken, die ganz auf ordoliberaler Linie lag. Die Rettungsmaßnahme wurde, keynesianisch begründet, mit Konjunkturpaketen ergänzt. Beides sind Lehren der 1930er Jahre. Ob sie tatsächlich in der Lage sind, die Krise schnell zu bekämpfen, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.

Um aber die Großprobleme – vor allem das ökologische Problem – zu lösen, bedarf es sicher einschneidenderer Paradigmenwechsel als eine Rückkehr zu Keynes. Die Voraussetzung wäre gerade analog der 1930er Jahre eine offene Diskussion über systematische Alternativen. Die Wissenschaft muss weniger für die Wirtschaft als über die Wirtschaft und für die Gesellschaft arbeiten. In einer Krise muss kritisch tabula rasa gemacht werden, wir brauchen Platz für neue Denkansätze und Denkbewegungen. Aber ohne die Bereitschaft zur Veränderung wird auch die tiefste Krise nicht zu einem Paradigmenwechsel führen.

Welche Ziele verfolgt das Institut?

Die Ziele ergeben sich aus dem bereits Gesagten. Das ICAE will Wirtschaft und Gesellschaft mit interdisziplinären Projekten erforschen und kritischen, alternativen Ansätzen eine Plattform bieten. Das ICAE versteht sich allerdings nicht nur als Forschungsinstitut, sondern will auch zu aktuellen Themen Stellung beziehen und für einen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften eintreten.

Es handelt sich um ein Drittmittelinstitut. Welche Abhängigkeiten ergeben sich daraus?

Walter Ötsch: Bezüglich der Inhalte der Forschung gibt es keine Auflagen. Auch die sonstigen Veranstaltungen des Instituts – Tagungen, Akademien, Vorträge – werden ohne Auflage konzipiert. Wir stellen selbstverständlich den Finanziers unsere Projekte und Forschungsergebnisse vor. Eine engere Zusammenarbeit ergibt sich bei Tagungen oder Konferenzen.

Mit welchen Projekten startet das Institut?

Walter Ötsch: Das erste große Projekt ist eine Dokumentation über die Geschichte des Neoliberalismus. Hier gibt es bereits beträchtliche Vorarbeiten, auf die zurückgegriffen werden kann. Erstmals soll der Neoliberalismus als quasi abgeschlossene Epoche historisiert, eingeordnet und auch als eine der bedeutendsten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Strömungen des 20. Jahrhunderts gewürdigt werden. Im Ergebnis soll dem Textteil ein Visualisierungs- und ein Materialteil hinzugefügt werden.

Ein zweites Projekt befasst sich mit der Geschichte der Agrarökonomen im 20. Jahrhundert, das zu einer gruppensoziologischen Analyse im Feld der Wirtschaftswissenschaft ausgedehnt werden soll. Des Weiteren ist das Institut mit einem Monitoring der Krise beschäftigt. Zudem sind kleinere Publikationen auf dem Weg. Im Juni wird es eine Sommerakademie geben, und eine Fachtagung für den nächsten Winter ist ebenfalls in der Planung.

Welches Abstraktionsniveau sollte das Instituts einnehmen – zwischen Wissenschaftstheorie/-Soziologie und Praxis, wo findet sich das ICAE?

Walter Ötsch: Das Abstraktionsniveau wird schon deshalb hoch sein, weil Gesamtanalysen ständige Synthesen und innovative theoretische Arbeit erfordern. So ist es auch für unsere konkreten Projekte - gerade für kommende, mehr empirische angelegte - unerlässlich, theoretische Rahmen zu formulieren. Dazu muss der Umgang mit bestehenden Ansätzen und Theorien methodisch immer wieder überprüft werden, um die Kohärenz der Forschungen und des Gesamtkonzepts zu gewährleisten. Gerade die Grenzen zwischen Wissenschaftstheorie, Soziologie und Ökonomie verwischen bei solch einem Ansatz, weshalb es auch immer wieder notwendig ist, diese Grenzen neu zu ziehen und die Forschungen neu zu begründen. Aber die theoretische und empirische Forschungsarbeit ist die eine Seite. Das Institut wird auch mit Publikationen und Veranstaltungen öffentlich sichtbar sein, und dabei die Forschungen und wissenschaftliche Debatten so präsentieren, dass sie ohne großen Komplexitätsverlust verständlich sind und ein möglichst breites Publikum ansprechen.