Opposition in der Türkei: Wie will sie die Erdoğan-Hegemonie beenden?

Seite 2: Nach dem Scheitern folgen die "Erneuerer"

Einige verloren den Glauben an die Möglichkeit von politischer Veränderung in der Türkei und beschlossen, Wahlen ab sofort fernzubleiben. Die Verzweiflung wuchs, als Kılıçdaroğlu die Niederlage nicht eingestehen wollte und die Regierung sowie ihre Verwaltung beschuldigte, welche Propaganda vor den Wahlen eingesetzt hatten. Der Glaube an die alte Führungsfigur der CHP, dass sie wirklich Veränderungen bewirken wollte, war erschüttert.

Doch eine neue Bewegung in der Partei wollte eben nicht alles so lassen, wie es war. Die Fraktion der "Erneuerung" wurde angeführt vom beliebten Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu. Er selbst war als Präsidentschaftskandidat im Gespräch gewesen, wurde jedoch durch die Strafverfolgung in einem manipulierten Fall von "Beleidigung der Behörden" daran gehindert. Dieser wurde von Erdoğan selbst initiiert, um den für ihn gefährlich werdenden Konkurrenten aus dem Präsidentschaftsrennen auszuschließen.

Die Erneuerer erhielten in der CHP die Oberhand nach der Wahlschlappe. Der 49-jährige Apotheker Özgür Özel setzte sich bei der Wahl zum Vorsitzenden gegen Kılıçdaroğlu durch. Zu seinen Unterstützern zählte Imamoğlu. Nun bei den Kommunalwahlen musste die Partei ohne Bundesgenossen auskommen – jeder kämpfte für sich um die Stimmen.

Viele wählten die CHP aus wirtschaftlicher Enttäuschung

Dass es für die Republikanische Volkspartei dabei so gut lief, hatte eher weniger mit ideologischen Vorlieben der Wähler zu tun, vielmehr mit ihren leeren Geldbörsen. Erdoğans endlose Versprechen, die Wirtschaftslage zu verbessern, verärgerten seine Zielgruppe.

In den zehn Monaten nach seiner Wiederwahl stieg die Inflation im Land von 39 auf 67 Prozent und die türkische Lira setzte ihren Sturz auch bei den Wechselkursen fort.

So gelang es der CHP am 31. März wieder, Anhänger der unterschiedlichsten politischen Richtungen auf ihre Seite zu ziehen, darunter auch Minderheiten wie die Kurden. Die Wahl wurde zu einer Protestabstimmung.

Selbst im konservativen Istanbuler Stadtteil Üsküdar, wo Erdoğan selbst gemeldet ist, gewann die CHP-Kandidatin. Im Wahlkampf ließ die CHP dabei erfolgreich ideologische Klischees hinter sich. Der säkulare und prowestliche Imamoğlu beteiligte sich etwa aktiv am Iftar, dem feierlichen Abendessen während des Fastenmonats Ramadan.

Kontakte zur deutschen SPD

Parallel reiste Parteichef Özel viel ins Ausland, im Dezember 2023 nach Deutschland. Dort traf er sich mit Bundeskanzler Scholz und trat auf dem Parteitag der SPD auf – und sprach auf Deutsch. Die deutschen Sozialdemokraten bildeten in den 1920er-Jahren eines der Vorbilder bei der Entstehung der CHP.

Özel holte in seiner Rede vor den Sozialdemokraten weit aus:

Menschliche Tragödien, wirtschaftliche Probleme werden durch das neoliberale System verursacht: Es geht um soziale Ungerechtigkeit, die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter, den Aufstieg von Rassismus und Rechtsextremismus, die Migrations- und die globale Klimakrise.

Man sei mit all diesen Problemen und Gefahren zugleich konfrontiert. Özel verwies diesbezüglich auch auf den Krieg mit der Ukraine.

CHP und seine internationale Ausrichtung

Özel und seine Partei bereiten in Gedanken bereits die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2028 vor. Erdoğan könnte hier noch auf die Option vorgezogener Neuwahlen setzen.

Doch das birgt für den 70-Jährigen mit angegriffener Gesundheit Gefahren. Özel muss derweil der internationalen Gemeinschaft zeigen, dass auch er etwa die Rolle als Vermittler zwischen Russland und dem Westen ausfüllen kann.

Unmittelbar nach dem aktuellen Wahlsieg kündigte er an, dass er neben Washington und Brüssel auch in Moskau und Beijing (Peking) Repräsentanzen seiner CHP eröffnen wolle. Westliche Politiker täten gut daran, sich die Agenda der Partei anzuschauen.

In den nächsten vier Jahren wird auf der politischen Landkarte der Türkei Rot eine dominierende Farbe sein. Es ist die Farbe der CHP. Zur aktuellen Stimmung in der Türkei passt ein bekanntes Lied der türkischen Popsängerin Hande Yener, das in den letzten Tagen vor Ort häufig zitiert wurde: "Rot steht Dir gut."