Palästinasolidarität und Antisemitismus
Interview mit dem Sozialwissenschaftler Peter Ullrich über die linke Sicht auf den Nahostkonflikt
Der Leipziger Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich hat in seinem Buch Die Linke, Israel und Palästina die Positionen der verschiedenen linken Gruppierungen in Deutschland und Großbritannien zum Israel-Palästina-Konflikt untersucht. Das Ergebnis war, dass die Linken den Konflikt im Licht der jeweiligen geschichtlichen Erfahrungen ihres Landes deuten, sich (teilweise in direkter Abgrenzung zu öffentlichen medialen Diskursen) mitunter mit einer der Kriegsparteien überidentifizieren und ihre eigenen Anliegen auf höchst verschiedene Art und Weise hineinprojizieren.
Herr Ullrich, die Beurteilung des Israel-Palästina-Konflikts scheint bei den verschiedenen linken Gruppierungen besonders emotional aufgeladen zu sein. Wie erklären Sie sich das?
Peter Ullrich: Hier kommen eine Menge verschiedener Ursachen zusammen: Einerseits ist das ein Konflikt, der die Linke schon 100 Jahre vor seiner Entstehung beschäftigte. Bereits die Arbeiterbewegung hat sich im 19. Jahrhundert über ihr Verhältnis zu den Themen Judentum, Antisemitismus, Zionismus usw. gestritten.
Andererseits stellt eine wichtige Dimension die überregionale Bedeutung und die Gewaltförmigkeit des Konflikts selbst dar. Bei aller Überformung der Wahrnehmung des Konflikts durch eigene aktuelle deutsche Befindlichkeiten ist ganz klar nicht zu verleugnen, dass dieser blutige Konflikt weltweit im Fokus der Öffentlichkeit steht, und in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit viel "Reibefläche" für polarisierende Auseinandersetzungen bereitstellt.
Und ein drittes wesentliches Moment stellt sicherlich auch der Umstand dar, dass der Konflikt sich aus deutscher Sicht eignet, um ganz spezifische eigene Problemstellungen auszuagieren. Denn Israel als auch eine Folge der Shoah ruft immer die Erinnerung an unbewältigbare Verbrechen der deutschen Geschichte wach. Diese drei verschiedenen Komponenten kommen hier zusammen und entwickeln eine komplexe Gemengelage.
Welche Rolle spielen dabei die Medien?
Peter Ullrich: Die Lager pro Israel und pro Palästina finden sich in der Medienlandschaft institutionalisiert und werden in den linken Medien noch einmal zugespitzt. In den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der deutschen Linken herrscht eine starke Identifizierung mit einer der Konfliktparteien vor - und dies findet sich interessanterweise auch in den Medien, besonders auch in denen der Linken.
Die Berichterstattung unterscheidet sich hier mitunter in so beträchtlichem Maße, dass, wenn man die betreffenden Artikel zu einem gleichen Ereignis ansieht, man das Gefühl bekommt, dass eigentlich über etwas vollkommen Verschiedenes berichtet wird. Seinerzeit, beim Abzug der israelischen Besatzungssoldaten aus dem Gazastreifen, war z.B. die Berichterstattung bei israelfreundlichen Medien wie "Jungle World" und "konkret" darauf ausgerichtet, wie Teile der Palästinenser reagieren.
"Mediale Berichterstattung wird niemals der Komplexität der Situation gerecht"
Es wurde vor allem darüber berichtet, dass die Palästinenser die verlassenen Siedlungen verwüsten und Synagogen anzünden usw. Wenn man sich hingegen die propalästinensische Presse wie z.B. die "Junge Welt", das "Neue Deutschland" oder den "Freitag" ansah, bekam man eine ganz andere Wahrnehmung zum selben Ereignis präsentiert: Dort wurde vorrangig über gewalttätige israelische Siedler berichtet, die sich dem Abzug entgegenstellen. Beide Seiten konnten also gewalttätige Gruppen der jeweiligen Gegenseite präsentieren und darüber mit gegensätzlichen Solidarisierungen formal auf nicht unähnliche Weise berichten.
Warum werden so häufig Zerrbilder und gelegentlich sogar antisemitische Klischees wie z.B. das des Kindermordes anscheinend unhinterfragt übernommen?
Peter Ullrich: Das Problem ist zunächst, dass mediale Berichterstattung niemals der Komplexität der Situation gerecht wird, vielleicht auch gar nicht gerecht werden kann und damit notwendigerweise Zerrbilder produziert. Wenn wir uns auf die linke Presse konzentrieren, kommen unterschiedliche Motive zusammen. Einerseits gibt es tatsächlich auch innerhalb der Linken einige Leute mit direkten antisemitischen Motivationen, weil sie sich in ihrem Nationalismus gekränkt sehen. Das ist aber nicht entscheidend.
Das Ausschlaggebende liegt darin, dass der Konflikt in einem alten Wahrnehmungsmuster registriert wird. Von Seiten der traditionellen Linken, die sich schon seit langem mit der palästinensischen Seite solidarisiert, wird nicht bemerkt, dass ihr dafür eigentlich der Kooperationspartner abhanden gekommen ist. In den 70er und 80er Jahren hatte man linke Kooperationspartner auf der palästinensischen Seite. Heute wird jedoch gerade im Gaza-Konflikt die palästinensische Partei fast nur noch von reaktionären Kräften repräsentiert.
"Antisemitismus in der Grauzone des Antizionismus und der Palästinasolidarität"
Und so merken Teile der hiesigen Linken durch Übertragung des alten Wahrnehmungsmusters, das dazu führt, dass die Hamas als antiimperialistische Kraft wahrgenommen wird, heutzutage gar nicht, dass sie sich mit hochreaktionären Leuten verbünden. Und über diese Schienen werden antisemitische Ideologeme in die Linke importiert. Nicht, weil man Vorteile gegen Jüdinnen und Juden hat, sondern weil man im Zuge antiimperialistischer Eindeutigkeit bereit ist, sich mit Leuten zusammenzuschließen und zu verbünden, die ganz klar ein antisemitisches Programm vertreten.
Wo treten denn diese antisemitischen Ideologeme auf?
Peter Ullrich: Antisemitismus zeigt sich vor allem in einer sehr breiten Grauzone des Antizionismus und der Palästinasolidarität, die manchmal eine Flanke nach rechts offen hat. Deutlich wird dies beispielsweise bei den anderen Standards, die an Israel angelegt werden (im Vergleich zu anderen Staaten). Warum werden nicht Saudi-Arabien, der Sudan, Somalia oder Sri Lanka zu einem großen Thema der Linken? Da wirken alte nationale Verletzungen mit, denn Israel erinnert Deutsche, die sich nicht vom Denken in nationalen Kategorien gelöst haben (auch Linke), immer auch an die Shoah, die zeigt, wie absurd und gefährlich nationales Denken eigentlich ist. Das führt dann zu Gleichsetzung der israelischen Besatzung mit dem Nationalsozialismus, im deutschen Kontext also einer Form der Täter-Opfer-Umkehr.
Gelegentlich gibt es sogar Kritik an Israel mit Bezügen zum alten christlichen Antijudaismus, beispielsweise, wenn Sharon als „Antichrist“ gebrandmarkt wird. Das wichtigste Einfallstor liegt aber in der Kooperation mit Antisemiten. Viele sehen in der Hamas komischerweise nur Befreiungskämpfer, aber sie ignorieren deren offen antisäkulares, antifeministisches, antidemokratisches, autoritäres und eben auch eindeutig antisemitisches (nicht nur antizionistisches) Programm.
"Verknüpfungen mit ungelösten Konflikten der politischen Kultur in Deutschland"
Weder ihr Raketenbeschuss auf Zivilisten noch die Attentate können als etwas verstanden werden, was der linken Hoffnung auf Befreiung der Menschen aus sie unterdrückenden Verhältnissen zuträglich ist. Die Hamas muss als Faktor im Konflikt ernst genommen, darf aber nicht als Bündnispartner für Linke missverstanden werden.
Was sind denn ihrer Meinung nach die ausschlaggebenden Gegebenheiten, die diesen Konflikt für die deutsche Linke prägen?
Peter Ullrich: Es gibt eine vielfältige Verknüpfung des Nahostkonflikts mit wichtigen Konfliktlinien der deutschen politischen Kultur: Im Nahostkonflikt konzentrieren sich innerhalb der deutschen Linken Problemstellungen und kulturelle Prozesse, die in Deutschland auch allgemein schwelen und bearbeitet werden müssen: Wie stehen wir zur Vergangenheit? Setzen wir uns mit ihr auseinander oder nicht? Das bedeutet im Fall des Nahostkonflikts: Akzeptieren wir, dass Israel auch eine Folge des Nationalsozialismus ist, oder – was lange Jahre die Linke gemacht hat – sehen wir uns nur den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern an? Sind wir bereit, diese andere Ebene auch mit einzubeziehen? Hier gibt es viele Verknüpfungen mit ungelösten Konflikten der politischen Kultur in Deutschland. Auch gibt es aufgrund der deutschen Geschichte eine ganz große Beziehungsdichte zwischen Deutschland, Israel und Palästina und somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, in Deutschland mit diesem Konflikt in Kontakt zu geraten.
"Absurde Position, die dazu beigetragen hat, dass komplexere Sichtweisen entstehen"
Weiter gibt es die hohe Medienpräsenz des Konflikts. All das sind soziale Gegebenheiten, die dazu führen, dass der Konflikt in das Blickfeld von linken Akteuren gerät. Also: ungelöste Konflikte hier sind mit ungelösten Konflikten dort verknüpft und rufen sich gegenseitig auf.
Welche Rolle spielen hierbei die so genannten "Antideutschen"?
Peter Ullrich: Die Antideutschen haben sich als Reaktion auf bestimmte Entwicklungen, beziehungsweise Fehlentwicklungen, der Gesamtgesellschaft (Vereinigungseuphorie, Nationalismus 1989/1990) und der Linken (beispielsweise Linksnationalismus, linker Antisemitismus und weltbildhafter Antizionismus) gebildet. Diese negativen Inhalte, gegen die strategisch-politisch opponiert wurde, wurden dann aber extrem radikalisiert.
So wurden aus ehemals unterstützten Opfern (beispielsweise Jüdinnen und Juden, die gegen Antisemitismus oder Antizionismus in Schutz genommen wurden) Objekte der Identifikation. Am Ende wurde von den Antideutschen alles Jüdische und alles Israelische idealisiert. Das ist eine absurde Position, aber sie hat mit dazu beigetragen, dass die linksdeutsche Nahostdebatte in den letzten Jahren so hitzig geführt wurde, aber auch, dass komplexere Sichtweisen entstehen konnten, die mehr als nur einseitige Solidarisierungen beinhalten.
Welche unterschiedlichen Identifikationsmuster und Projektionsmechanismen haben sich in den Sichtweisen der deutschen und englischen Linken auf den Nahostkonflikt herausgebildet?
Peter Ullrich: Erst einmal gibt es eine grundlegende Differenz: In der Bundesrepublik existiert ein großer Streit innerhalb der Linken zwischen propalästinensischen und proisraelischen Strömungen. Es gibt die traditionelle Linke, die sehr stark in einer bis ins 19. Jahrhundert liegenden Tradition des Antizionismus steht, die sich in der Wahrnehmung des Konflikts mit der augenscheinlich schwächeren Seite solidarisiert, nämlich den unter Besatzung lebenden Palästinensern.
Die britische Linke ist anders
Auf der anderen Seite hat sich, wie gesagt, als Reaktion darauf, dass es auf Seiten der Palästina-Solidarität häufig zu einer Überidentifikation und auch zu antisemitischen Ausfällen kam (beispielsweise wurden seinerzeit Anschläge auf israelische Sportler als mutiges revolutionäres Kommando gesehen), eine linke Israel-Solidarität gebildet, wie es sie bereits in den 50er und 60er Jahren schon einmal gab. Diese ist heute stark mit der Strömung der Antideutschen verbunden. Diese beiden Positionen prallen sehr heftig aufeinander und sorgen dafür, dass es sozusagen einen kleinen Nahostkonflikt in der Bundesrepublik gibt.
Die britische Linke ist anders; besonders der weltweite Imperialismus des Vereinigten Königreichs war für sie prägend. Daher ist sie viel mehr für Imperialismus und Rassismus sensibilisiert als die deutsche Linke. Andererseits fehlt ihr - wie häufig der Arbeiterbewegung - für die Bedeutung und Gefahr des Antisemitismus völlig der Sinn. Daher kümmert man sich in Großbritannien sehr um die Rechte der Palästinenser und den Kampf gegen die Besatzung. Andererseits wird kein Gedanke daran verschwendet, welche Rechte der israelischen Bevölkerung zustehen, welche Bedürfnisse diese hat. In dieser Situation ist man viel schneller als in der Bundesrepublik bereit, mit allen frisch zu kooperieren, die irgendwie auch gegen Israel sind. Es gibt viel mehr als in der Bundesrepublik Kooperation mit reaktionären moslemischen Vereinen, Theologen und so weiter, Verharmlosung Irans und der Militanten im Irak, sowie faule Kompromisse zugunsten religiöser Moslems.
"Spezifische Brechungsfaktoren des klassischen linken Bildes"
Immer wieder können da auch Antisemiten mit der Hofierung durch die ganz traditionalistischen Teile der Linken und der Friedensbewegung rechnen. Dort besteht also eine weitreichende Einigkeit in der Solidarisierung mit der palästinensischen Seite und eine weitgehende Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der israelischen Bevölkerung. Und dort gehört auch der Antizionismus zu den Kernbeständen linker Identität.
Funktionieren diese Identifikationsmuster und Projektionsmechanismen auch in anderen Ländern?
Peter Ullrich: Für andere Länder gilt zu unterscheiden, was die dortigen konkreten sozialen Bedingungen für die Wahrnehmung des Konflikts sind. Das ist von Land zu Land unterschiedlich, aber in den meisten Ländern überwiegt die propalästinensische Position. Allerdings existieren auch in anderen Ländern spezifische Brechungsfaktoren des klassischen linken Bildes, die den Antisemitismus nicht nur als ein überkommenes Bewusstseinsrelikt aus dem Mittelalter ansehen, sondern versuchen, ihn als wichtiges aktuelles Phänomen zu begreifen und Akteure im Nahostkonflikt nicht nur danach zu beurteilen, ob sie gegen die Besatzung kämpfen, sondern auch danach, ob sie Antisemiten sind. Beispielsweise gibt es in Frankreich und in den USA eine nicht unbedeutende jüdische Linke, die sich potentiell vom Antisemitismus bedroht sieht und dementsprechend einen anderen Blick auf Israel hat.
Wie agieren denn die linken Gruppen in Israel und Palästina selber?
Peter Ullrich: Der Begriff "links" bedeutet in Israel nicht unbedingt in erster Linie, für ein soziales Leitbild zu stehen, wie das in der europäischen Tradition üblich ist, sondern vor allem, für einen friedlichen Ausgleich mit den Palästinensern zu sein.
"Selbst die PLO wird massiv verfolgt"
Die Linke in Israel ist dafür, dass die Grenzen von 1967 wieder hergestellt werden. In Palästina ist das deswegen komplizierter, weil die Linke, die innerhalb der politischen Landschaft einmal sehr stark war, mittlerweile weitgehend dezimiert wurde und im nationalen Block des Widerstands gegen Israel fast nicht mehr wahrnehmbar ist.
Warum sind linke Positionen bei den Palästinensern so marginal geworden?
Peter Ullrich: Bei den Friedensverhandlungen in den 90er Jahren, als auf palästinensischer Seite vorwiegend Optimismus herrschte, gab es eine Hochphase für die säkularen Kräfte. Als sich aber die Versprechungen des Friedenprozesses in keiner Weise erfüllten, als klar wurde, dass die Verhandlungen nicht mehr weitergingen, Israel sich doch nicht zurückziehen würde, es immer wieder zu neuen Abriegelungen kam, der Straßen- und Siedlungsbau weiterging et cetera - und insbesondere als dann noch die Intifada aufkam, wurde die palästinensische Gesellschaft extrem nationalisiert.
Diese palästinensische Gesellschaft, die während der 80er und 90er Jahre absolut zu den säkularsten und fortschrittlichsten in der arabischen Welt zählte, ist mittlerweile sehr religiös und nationalistisch geprägt und dies ist Ausdruck davon, dass sich für die Bevölkerung am Ende keinerlei Hoffnung erfüllt hat. Die positiven Aussichten sind so sehr widerlegt worden, dass sich die palästinensische Gesellschaft immer mehr unter einem religiös-antiisraelischen Banner versammelt.
Ist für die Marginalisierung der Linken nicht auch direkt die Repression der Hamas verantwortlich zu machen?
Peter Ullrich: Die Hamas hat ein eindeutiges Programm: Sie ist eine reaktionäre islamistische Organisation, die die Errichtung eines Gottesstaates als Endziel verfolgt. Das ist nicht nur absolut unvereinbar mit linken, sondern auch säkularen bürgerlichen Positionen. Was von den linken Parteien noch übrig ist, wird zwar von der Hamas gerade noch akzeptiert, weil es auch Teil der Ablehnungsfront aus den Zeiten des Scheinfriedens war - aber da, wo die Hamas die politische Macht hat, wird sie es mit Sicherheit nicht zulassen, dass linke gesellschaftliche Gruppen tatsächlich auch linke Projekte verwirklichen. Selbst die PLO wird massiv verfolgt.
Sie schreiben, dass sich bei der deutschen Linken im Umgang mit dem Konflikt Lerneffekte eingestellt hätten ...
Peter Ullrich: In der Bundesrepublik sind unterschiedliche Solidaritätsmuster fest institutionalisiert. Es gibt Strömungen, Zeitschriften, die entweder proisraelisch oder propalästinensisch sind und die mit ihren Meinungen aufeinander treffen. Dies hat den Effekt, dass die Debatte ständig geführt wird. Man kann also nicht, wie in Großbritannien, eine einfache Losung ausgeben, die dann von allen mehr oder weniger akzeptiert wird, weil man sich ohnehin einig ist. Hier wird aufgrund der vielfältigen Verknüpfungspunkte immer mit der deutschen Geschichte debattiert. Das hat insgesamt den Effekt, dass die Debatte komplex wird.
"Die Linke muss sich der situativen Prägungen bewusst werden"
Es gibt für den Konflikt mehr Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Wer sich in Deutschland zu dem Konflikt äußert, muss schon die Reaktion der Gegenseite mit einkalkulieren und sich argumentativ besser wappnen. Freilich gibt es an den extremen Rändern des Verhältnisses Positionen, die beispielsweise nicht in der Lage sind, zwischen dem Thema Antisemitismus und dem Nahostkonflikt zu unterscheiden: Die Leute, die den Antisemitismus als wichtiges Problem erkennen, sind in der Regel eindeutig proisraelisch eingestellt und Verkennen die Leiden der Palästinenser, während die Leute, die sich für die Palästinenser einsetzen, den Antisemitismus bagatellisieren.
Das ist aber mittlerweile nur noch ein Phänomen der extremen Solidaritätspositionen. Dazwischen existiert ein breites linkes Spektrum von Leuten, die gelernt haben, diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten. Und nachwachsende politische Generationen werden in diese komplexere politische Situation einsozialisiert und versuchen, aus beiden Positionen den rationalen Kern herauszuziehen.
Ich persönlich finde es spannend, dass die linken Sichtweisen auf den Konflikt historisch und geografisch variabel sind. Ganz konkrete gesellschaftliche Konstellationen eröffnen Spielräume für Ideologiebildungsprozesse, die manchmal auch Lernprozesse sein können, die komplexere, vielschichtigere, weniger eindimensionale Sichtweisen auf den Konflikt ermöglichen, wie die Entwicklung in der deutschen Linken in den letzten Jahren belegt.
Die Linke muss sich dieser situativen Prägungen bewusst werden, sie mitreflektieren. Als Maßstab kann ihr dabei nur ein konsequenter Universalismus gelten, der kein Übel, von dem Menschen betroffen sind, als das kleinere akzeptiert. Dieser Universalismus darf weder vor dem Leiden der Palästinenser noch vor ihren klerikalfaschistischen „Befreiern“ von der Hamas kapitulieren.
Einerseits spitzt also die Situation im Nahen Osten hierzulande die Positionen zu, anderseits werden die Standpunkte komplexer. Widersprechen Sie sich da nicht ein wenig?"
Peter Ullrich: Nein. Es stimmt zwar, das die aktuelle Krise (Gaza-Krieg) wieder alte Extreme hervorbringt und erneut verstärkt. Andererseits basiert der Lernprozess, den ich beschrieben habe ja gerade auf der Existenz dieser teilweise absurd zugespitzten Positionen. Deren Zusammenprall schafft Frustration, aber er ermöglichte auch den evidenten Lernprozess bei denjenigen, die sich nicht auf eine Seite schlagen. Nach meiner Beobachtung sind das, wenn man einen längeren Zeitraum im Blick behält, immer mehr!