Philosophieren in Bullet-Time

Matrix Reloaded gerät außer Kontrolle, denkt aber darüber nach

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Was ist Kontrolle? fragt der Senator in einer ruhigen Minute aus seiner Toga heraus. Die Menschen nämlich werden von Maschinen kontrolliert, und wenn nicht, dann kontrollieren sie selbst Maschinen, und so weiter. Und grade an dieser Stelle schlichen bei der Münchner Pressevorführung von "Matrix Reloaded" ein paar Kontrolleure die Sitzreihen entlang, um zu verhindern, dass die Menschen mit Hilfe kleiner Videomaschinen den teuren Maschinen-Film mitschneiden. Vielleicht war das Sicherheitspersonal ja auf direkte Anweisung der Regiesseure unterwegs, um die Erkenntnis des Filmes noch zu unterstreichen: Keiner hat's wirklich im Griff, weder die Wachowski - noch die Warner Brothers.

Auch nicht der Auserwählte Neo, der sich im ersten Teil zunächst aufklären und dann wieder ordentlich durchmystifizieren ließ. Nun, nachdem er ja die Herrschaft der Maschinen schon durchblickt hat, erwachsen ihm leise Zweifel an den alternativen Leitbildern. Wieso zum Henker ist er denn nun eigentlich der Auserwählte? Und entspricht das Orakel nicht "einer anderen Art von Kontrolle"? Zweifel sind angebracht an den semireligiösen Hilfsmitteln, mit dem sich der erste Teil aus der Sackgasse herausgeholt hat. Lehrmeister Morpheus jedoch predigt weiterhin den wahren Glauben an Orakel, an Messias und Vorsehung. Und klagt auch, bevor er sich auf's Schlachtfeld bemüht, ein bisschen Zuversicht in seine Person ein. Denn Kontrolle ist ja gut, aber Vertrauen ist ja eigentlich noch schöner.

Zur unmittelbaren Berühmtheit gelangte "Matrix" von Andy und Larry Wachowski wohl hauptsächlich wegen seiner Actionszenen. In der Fortsetzung sind die Bullet-Time-Kampfszenen nicht nur Pflicht, sondern geraten sogar zur Kür, wenn etwa Neo ausgiebig eine Hundertschaft von Klonen des Agenten Smith bekämpft, oder Morpheus, umschwurbelt von der Kamera, langwierige Gefechte auf einem Highway austrägt. Technisch erscheint dies alles absolut hochwertig und bahnbrechend. Doch wie ein vorwitziger Dreizehnjähriger, der seine Kameraden beim Ritterspiel mit Shakespeare-Zitaten beeindrucken will, so trüben die Wachowski-Brüder den Freunden von Action und aufwändiger Technik das Vergnügen mit weitschweifigen Theoriepassagen.

Dadurch löst "Matrix Reloaded" ein, was schon über den Vorgänger behauptet wurde: Es gibt was zu diskutieren. Über alte Römer, eiskalte Agenten, fehlerhafte Scheinwelten und einen Architekten mit weißem Barte, der am Ende noch mehr Rätsel aufgibt. Kryptisches wird geplaudert über den Zentralcomputer, tapfer an den Realitätsebenen entlangbalanciert und mitgegrübelt mit einem Neo-Hamlet, der alle seine Entscheidungen eh schon getroffen hat, aber noch nachfragen muss, warum. Wer "Matrix" nicht kennt, ist rettungslos verloren.

Einmal müssen die tapferen Amerikaner Neo, Morpheus, Link und Trinity sogar zur Recherche ins alte Europa zurückkehren. Da treffen sie auf die Dekadenz, natürlich in Form eines Franzosen, der ein kleines, nihilistisches Referat hält, bevor er zum Quickie aufs Klo verschwindet. Und auf die Melancholie in Form der Italienerin Persephone. Ihre Unschuld ist längst dahin, aber die Sehnsucht ungeschwächt. So handelt sie Neo, der Wehmut wegen, einen Kuss ab, der nach wahrer Liebe zu schmecken hat. Persephone ist die lebendigste Gestalt dieses vorsätzlichen Blockbusters und erinnert den Zuschauer sanft an das Wesentliche: Draußen flirrt das wahre Leben, drinnen dröhnt nur Matrix 2.

Zwischendurch rutscht der Film vergnüglich ins Profane ab. Wenn die Privatangelegenheiten der Nebukadnezar-Crew zur Sprache kommen, etwa Morpheus' Sorgen mit dem Chef und der Ex-Freundin oder Links Eheprobleme. Dann gerät die supercoole Sci-Fi in die Nähe von "Love Boat". Doch es ist kein Traumschiff, das sie bewohnen, und auch nicht die Waltons-Farm oder Bullerbü, sondern eine Höhle mit donnernder Industrial-Ästhetik, die ausgerechnet Zion heißt und in der manchmal Love-Parades zu verblüffend unbedarfter Musik stattfinden. Sehr erheiternd lugt die schnöde Realität auch mittels Sonnenbrillen-Reklame in die Schauhuberei vulgärphilosophischer Bildung. Zur Filmmitte erfreut ein erotisierendes Daten-Dessert und am Ende, nach dem letzten Theorieteil, siegt die Liebe durch eine virtuelle Herzmassage.

Bei aller Fulminanz ist "Matrix Reloaded" somit stilistisch ziemlich außer Kontrolle geraten. Pubertierendes Popcorn-Kino. In der Pubertät nämlich sieht der Mensch unförmig aus und trägt doofe Kleidung, redet aber schon fleißig mit, denn er hat bereits einen Zeugungstrieb, ein Faible für Neuerungen und Hesse gelesen. Und manchmal versucht er zu rennen, obwohl sich die Feinmotorik noch nicht an die Länge der Beine gewöhnt hat. Das sieht sehr lustig aus, als Zuschauer sollte man aber für so eine Phase auch Verständnis mitbringen.