Plädoyer für ein shitstormfreies Internet

Bild: Brett Jordan / Unsplash

Eine Replik auf Kommentare zum Artikel "Denkende Maschinen"

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Freunde hatten mich davor gewarnt, den Artikel "Denkende Maschinen" in einem Online-Medium zu veröffentlichen. Ihre Begründung: Es seien "Internetschlägereien", "Arroganz und Eitelkeit" oder "Shitstürme" zu erwarten.

Trotz der Warnungen habe ich Telepolis die Veröffentlichung angeboten - und es nicht bereut. Aus drei Gründen: Erstens gab es auch aus dem Telepolis-Forum zivilisierte Reaktionen mit konstruktiven Anregungen, zweitens war Telepolis sehr kooperativ (z.B. in Form der Beschaffung von Bildmaterial) und drittens entlarven sich Shitstürmer in der Regel selbst. Dennoch werde ich ein paar Kommentare dieser Art mit Blick auf eine andere Internet-Kultur kommentieren. Eine juristische Einschätzung des Problems schicke ich voraus.

Posts und die Notwendigkeit personenbezogener Kennung

Auffällig ist, dass die meisten Kommentare im Forum anonym bzw. unter seltsamen Namen abgegeben wurden (z.B. "Drahtlooser" oder "time traveler"). Bei den "anonymen Alkoholikern" ist Anonymität gut begründet, bei anonymen Digitalisten nicht. Was auch immer deren Motiv sein mag, in einer rechtsstaatlich basierten Informationsgesellschaft hat sie keinen Platz. In den Worten des langjährigen sächsischen Datenschutzbeauftragten Dr. jur. Thomas Giesen:

Offene Beleidigungen, Bedrohungen und Lügen, Schmähkritik und Shitstorms unter dem Schutzmantel angeblicher Meinungsfreiheit verunsichern die digitale Welt und machen das Netz zu einer oft unschönen Subkultur. Keiner traut sich, das zu ändern, weil Informationsfreiheit ohne Verantwortlichkeit en vogue ist... Freiheit gibt es im Rechtsstaat nicht ohne direkt erkennbare persönliche Verantwortung für die geposteten Inhalte. Jeder Post (nicht die Lektüre) bedarf einer Kennung (personenbezogene IP mit einer Identifikation der postenden Person), die offen personenbezogen ist und bleibt.

Ein nichtanonymer und 8 anonyme Kommentare

Prof. em. Dr. med. B. Fischer (Gründer der ersten Memory-Klinik für Schlaganfallpatienten): "In dieser Klarheit wurden die Unterschiede zwischen Gehirn und Computer noch nie herausgearbeitet."

Und jetzt die 8 Anonymen aus dem Telepolis-Forum:

1. Drahtlooser (so der Name des Kritikers): "Der Autor kann nicht denken. Beweis: Die gesamte Argumentation, die er gegen Computer aufführt, gilt genauso für Gehirne jeder Art, also auch für seins. Überhaupt ist die Argumentation unlogisch und teilweise wirr."

Antwort D’Avis: Drahtloosers Behauptung in ihrer umfassenden Form ("Die gesamte Argumentation…") ist falsch. Zwar gibt es Übereinstimmungen zwischen Gehirn und Computer, auf die ich selbst hingewiesen habe, aber wesentliche Unterschiede bleiben. Einer davon ist die in der Zeit sich ändernde Morphologie des Gehirns (siehe die Abbildung im vorausgegangenen Artikel), die im Computer kein Analogon hat. Im Unterschied zu Drahtlooser räumen das renommierte KI-Wissenschaftler bescheiden ein. Nur ein Beispiel: Professor Alice Parker hat für ein "künstliches Gehirn" Synapsen aus Karbon-Nanoröhrchen entwickelt, gesteht aber ein, dass die künstliche Modellierung der "Plastizität" des biologischen Gehirns, was ich "Veränderbarkeit der Morphologie" nenne, noch in weiter Ferne liege. Ich sehe mich also in guter Gesellschaft.

Drahtlooser: "Zeichen und Symbole wissen in der Regel nichts über das von ihnen Bezeichnete."

Antwort D’Avis: Die Behauptung ist in zweierlei Hinsicht falsch: Erstens wissen Zeichen niemals etwas über das von ihnen Bezeichnete, also nicht nur "in der Regel" nicht. Denn sonst wären Zeichen, die der Regel nicht folgen, wissende und damit denkende Zeichen (à la Foucault: "Wer spricht?" Die Antwort: "Le mot lui-mème!"). Und zweitens habe ich das nicht behauptet. Richtig ist: Die kognitive Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem entsteht immer erst im Kopf, genauer: in der Bedeutung des Zeichens, die es nicht in sich trägt, sondern die ihm der menschliche Geist allererst verleiht (Geist ist nicht identisch mit dem Gehirn, worauf nicht zuletzt schon Max Planck hingewiesen hat).

Was Herr oder Frau Drahtlooser außerdem wohl nicht verstanden hat: Kognitive Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, durch interne Phänomenbildung eine Beziehung zur nichtkonvertierten Ursprungsform des jeweiligen Objektes aufzubauen. Und genau das können Computer definitiv nicht. Noch einmal der Grund: In (!) der CPU gibt es keine gegenständliche Abbildung z.B. von Lobos Kopf, sondern nur kopfloser Elektronenfluss, im (!) menschlichen Geist dagegen sehr wohl. Sonst würden wir den Kopf nicht sehen.

Drahtlooser: "Neuronen sind Neuronen - und sonst nichts… Wer anderes behauptet, betreibt pure Metaphysik, quasi die Heiligsprechung des menschlichen Geistes."

Antwort D’Avis: Den Satz hat Drahtlooser als Reaktion auf meine einschränkende Aussage "Elektronen sind Elektronen - und sonst nichts" formuliert. Zugegeben: Drahtlooser hat Recht, aber seine Äußerung ist überflüssig, weil ich die Funktionseinschränkung schon in dem Artikel selbst vorgenommen habe: z.B. in der Formulierung "Neuronen feuern, denken aber nicht". Die kognitionstheoretischen Konsequenzen daraus will ich nicht noch einmal ziehen. Mit "Metaphysik" oder "Heiligsprechung des menschlichen Geistes" hat das Alles nichts zu tun, wohl aber mit der besonderen empirischen Realität von Denkprozessen.

2. Time traveler (so der Name des Kritikers): "Falsch durch Inkompetenz. Dadurch leider belanglose Schlussfolgerungen… Auch auf Siliziumschaltkreisen beruhende neuronale Netzwerke verändern ständig ihre Struktur. Nur eben durch Verändern von elektrischen Potenzialen - es gibt natürlich auch andere mögliche Änderungen, z.B. durch magnetische Ausrichtungen oder Kristallstrukturen oder Quantenzustände oder Wellenlänge oder Spin."

Antwort D’Avis: Die Aufzählung stimmt, geht aber tangential am Inhalt meiner Argumentation vorbei. Die Begründung: Ich habe nicht grundsätzlich die Existenz von computerinternen "Änderungen" bestritten, sondern nur die Existenz einer spezifischen Änderung, nämlich die morphologischer Art (in der Neurobiologie "Plastizität" genannt). Warum Time traveller diese in der KI bekannte und von mir in der Abbildung im vorausgegangenen Artikel augenfällig gemachte Besonderheit nicht zur Kenntnis genommen hat, weiß ich nicht. Die Empfehlung: Texte zunächst einmal in toto aufnehmen, bevor man mit dem Schnellfeuergewehr an isolierten Einzelheiten destruktive Gelüste auslebt.

3. Spießbürger (so der Name des Kritikers): "Darum mag ich Philosophen nicht… Im Gehirn gibt es auch keine Farben."

Antwort D’Avis: Während bei Drahtlooser und Time traveller noch Momente von Gedanken nachvollziehbar sind, kann ich sie bei Spießbürger unter Bezug auf meinen Artikel auch bei wohlwollender Betrachtung nicht finden. Spießbürgers "Im Gehirn gibt es auch keine Farben" sage ich doch selbst! Gäbe es sie neurophysiologisch, hätte man sie bei empirischen Untersuchungen des Gehirns schon entdeckt. Die Tatsache bleibt: Wir sehen Farben - und zwar subjektiv als Merkmale von Objekten der Außenwelt, obwohl es in Wahrheit nur Merkmale der internen Repräsentation dieser Außenwelt im Geiste sind.

Noch eine kleine Bemerkung: Spießbürger "mag…Philosophen nicht". Das ist sein gutes Recht. Dass ich ein "Philosoph" bin, habe ich allerdings durch ihn das erste Mal erfahren. Wenn es so wäre, würde ich mich - abweichend von Spießbürgers despektierlicher Meinung - nicht in schlechter Gesellschaft sehen, jedenfalls in vielen Fällen.

4. Namenlos (also nicht einmal ein Deckname): "Alles, was der Autor über Bedeutung schreibt, kann man aus meiner Sicht mit der Fähigkeit zur Bildung von Modellen, und damit Abstraktionen erklären… Und so kann man eigentlich den ganzen Artikel demontieren… Das Elektronmodell als physikalisch unmöglicher räumlicher Punkt folgt aus dem mathematischen Formalismus, ist also für Intelligenzen, die zur Problemlösung nur die Sprache der Mathematik sprechen, zwingend."

Antwort D’Avis: Zunächst einmal: Namenlos begeht einen logischen Fehler: Zwischen dem mathematischen Formalismus und der Explikation von "mathematischer Punkt" auf der einen Seite und dem Elektronmodell "Punktteilchen" auf der anderen Seite gibt es keine Folge-, sondern eine definitorische Identitätsbeziehung. Aber wichtiger ist dies: Ein System spricht "die Sprache der Mathematik" nur dann, wenn es die Bedeutung der Worte "Sprache", "Mathematik", "Punkt", "Modell" etc. versteht.

Auf dem Hintergrund meiner Argumentation, die ich hier nicht wiederholen will, hat dies im Falle des Computers folgende Konsequenz: Wenn eine KI-Maschine im Zusammenhang mit dem mathematischen Modell des Punktes z.B. eine Gleichung löst, dann ist die Beschreibung "Die KI-Maschine hat eine Gleichung gelöst" falsch! Richtig ist: Die KI-Maschine hat einen Output produziert, den wir (!) als menschliche Benutzer (!) "Lösung einer Gleichung" nennen. Die Begründung: Weil die Maschine - im Unterschied zu uns - die Bedeutung der Worte "Gleichung", "Punkt" etc. nicht kennt. Warum, habe ich schon ausgeführt. Der Versuch von Namenlos, den "ganzen Artikel (zu) demontieren", ist zwar ambitioniert, aber schon im Ansatz gründlich misslungen.

5. OckhamOS (so der Name des Kritikers): "Zuviel Transzendenz, zu wenig Wissenschaft... Mal angefangen von den völlig unscharfen Begriffen Intelligenz und Bewusstsein…"

Antwort D’Avis: Zunächst einmal vermute ich, dass Ockham OS den Unterschied von "transzendent" und "transzendental" und auch den physikalischen Begriff "Apriori-Wahrscheinlichkeit" nicht kennt oder bei der Lektüre des Artikels vergessen hat. Und was die Unschärfe der Begriffe betrifft, so ist die Physik als Leitwissenschaft ein gutes Vorbild, denn alle theoretischen Terme (z.B. "Elektron", "Masse" etc.) sind aus guten Gründen nur "partiell", also unscharf interpretiert. Ich befinde mich somit in guter Gesellschaft. Abgesehen davon: Meinen Begriff "völlig unscharf" zu nennen, ist ziemlich gewagt. Zur Erinnerung mein Vorschlag in erster Näherung: Denken ist zeitliche Repräsentation von Bedeutung.

Weiter OckhamOS: "Wie kommt das menschliche Gehirn von der elektrischen Repräsentation einer Information in einem beliebigen Neuron zu einer Bedeutung des Sinneseindruckes "rot" bei einer Straßenampel?... Wer diesen Prozess versteht und akzeptiert, dass er in einem biologischen System ablaufen kann, der kann auch nichtmenschliche Intelligenz verstehen."

Antwort D’Avis: Das Ergebnis vorweg: Ockham OS' Kommentar fällt dem berühmten Ockhamschen Messer zum Opfer. Eine kurze Begründung: Wie aus Wellenlängen und Frequenzen von Photonen der Außenwelt der Farbeindruck "rot", also das Phänomen in der Innenwelt des Kopfes entsteht, ist in der Neurobiologie/-physiologie völlig unbekannt. Wenn Ockham OS die Erklärung liefern kann: Chapeau!

6. Fritz: "Homo Sapiens staunt… Die Formeln zur Lorentz- und Galileitransformation sind falsch." Antwort D'Avis: Fritz staunt, D'Avis staunt noch mehr. Warum? Fritz bezieht seine Kritik im Plural auf "die Formeln zur Lorentz- und Galileitransformation". Da Homo sapiens in dem Gedankenexperiment des Artikels aus gutem Grund den Roboter nur nach der vierten Lorentz-Gleichung fragt, staune ich sehr, dass Fritz diese Formel "falsch" nennt:

Es handelt sich bekanntlich um eine Formel, die zu den mathematischen Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie gehört und die Einstein in genau dieser Schreibweise in "Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie" verwendet hat. Vielleicht kann Fritz die Falschheit der Gleichung nachweisen oder kennt eine Alternative und damit eine Alternative zur Speziellen Relativitätstheorie. Dann dürfte der Nobelpreis schon auf dem Weg sein. Und sollte Fritz bei seiner Kritik - abweichend von seiner eigenen Formulierung - nur meinen Vergleich zwischen den Lorentz- und den Galileitransformationen gemeint haben, so verweise ich wieder auf Einstein, der diesen Vergleich in abgrenzender Absicht selbst angestellt hat.

7. Stefan de: "Qualia die 1000ste...Warum soll es in einer künstlichen Intelligenz keine interne Repräsentation von farbigen Objekten geben?"

Antwort D’Avis: Die Begründung ist einfach: Weil ein Computer ausschließlich aus physikalischen Bauteilen und Prozessen besteht und weil es physikalisch zwar Wellenlängen und Frequenzen, aber keine Farben gibt. Insofern handelt es sich um eine prinzipielle Grenze von Computern, die pars pro toto für eine prinzipielle Grenze der internen Phänomenrepräsentation steht.

Stefan de: "Was genau ist der Unterschied zu in bestimmter Weise angeregten Neuronen und einer elektrischen Repräsentation, sei es ein klassisches programmiertechnisches Objekt, sei es ein neuronales Netzwerk?"

Antwort D’Avis: Hinsichtlich der elektrischen Aktivitäten von biologischen und technischen Neuronen gibt es keinen wesentlichen Unterschied (abgesehen vom Unterschied in chemischer Hinsicht - siehe z.B. die Hirnprozesse im synaptischen Spalt). Das habe ich in dem Artikel schon eingeräumt. Aber der kognitionserhebliche Unterschied hinsichtlich der zeitlich veränderbaren Morphologie ("Plastizität") bleibt.

8. Tele-Tommel: "Einspruch…"Neuronale Netze"…werden zwar kurz berührt, aber dass hier der eigentliche Ansatzpunkt ist, das hat er auch nicht verstanden. Das Rekurrieren auf die deterministische Arbeitsweise der CPU geht jedenfalls völlig am Thema vorbei."

Antwort D’Avis: Tele-Tommels Strategie ist bekannt: Die Beweisführung mit Bezug auf die CPU wird (indirekt) anerkannt - danke -, aber für die Grundsatzfrage nach der Denkfähigkeit von Computern für irrelevant erklärt. Seine Begründung steckt im Hinweis auf "neuronale Netze" als Weiterentwicklung der KI, denen er Denkfähigkeit wohl zurechnet.

Zunächst einmal: Ob ein System deterministisch oder nichtdeterministisch arbeitet, spielt für die Kognitionsfrage keinerlei Rolle, d.h. beide Systemeigenschaften schließen Denkfähigkeit nicht aus. Aber wichtiger ist: Auch künstliche neuronale Netze erfüllen die von mir vorgeschlagenen Anforderungen nicht, weil auch deren Hardware im Kern die - im Artikel bewusst vereinfacht beschriebenen - Eigenschaften von klassischen Computern hat (z.B. verändert sich der Chip nicht, d.h. es gibt keine durch Informationsverarbeitung verursachte neuen Leiterbahnen und auch keinen Abbau von Leiterbahnen etc. etc.). Hätte ich neuronale Netze im Detail, oder Koprozessoren für Gleitkommaoperationen oder spezielle Prozessorarchitekturen wie RISC etc. etc. berücksichtigt, am Ergebnis hätte sich nichts geändert, aber der Artikel wäre sehr viel komplizierter geworden.

Letzte Bemerkungen und Empfehlungen an die Internet-Gemeinde

In der Kritik spielt direkt oder indirekt immer wieder die Beweisfrage eine zentrale Rolle, z.B. bei Stefan De: "Mir fehlt der letztendliche Beweis, dass "die Fähigkeit zur internen Repräsentation von Phänomenen" nur biologische Systeme haben können." Für das Phänomen "Farbe" habe ich den "letztendlichen Beweis" - so es denn überhaupt so was gibt - in verkürzter Form so geliefert: Prämisse 1: Physikalisch gibt es keine Farben, sondern nur Wellenlängen und Frequenzen von Photonen. Prämisse 2: Computer sind lückenlos physikalische Systeme. Conclusio: Computer kennen keine Farben (warum die Farbe auf dem Bildschirm nicht das Gegenteil beweist, habe ich schon ausgeführt).

Dass ich das Erkennen von Farbe besonders betont habe, liegt daran, dass der Beweis hier gleichermaßen einfach wie zwingend geführt werden kann. Dieses negative Ergebnis beim Phänomen "Farbe" habe ich dann auf alle Phänomene extrapoliert und dem Computer auf dem Hintergrund meiner Definition von "Denken" grundsätzlich die kognitive Kompetenz abgesprochen (zu mehr Einzelheiten des Phänomenbeweises siehe D’Avis: Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften).

Zugegeben: Die Beweisführung in anderen Bereichen (z.B. beim Phänomen "optische Traumerlebnisse" oder bei der Bedeutung eines mathematischen Symbols) ist schwieriger, da sie zum Teil auf eine Kombination von Introspektion, Schlussfolgerung und Kommunikation angewiesen ist. Dass ich im Traum z.B. Pamela Anderson gesehen etc. habe, ist nicht direkt beweisbar. M.a.W.: Das von mir behauptete Phänomen kann nicht von einem unabhängigen Dritten direkt beobachtet oder gar gemessen werden. Eine Verifikationslücke also. Mehr noch: Es handelt sich dabei um eine nicht überschreitbare Grenze. Die Frage: Folgt daraus die Unwissenschaftlichkeit von introspektiven, schlussfolgernden und nur via Kommunikation erreichbaren Verifikationen? Nein!

Die Begründung am Beispiel der Debatten über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer methodologischen Einheit der Wissenschaften. Das Beobachtbarkeitskriterium spielte dabei bekanntlich eine zentrale Rolle (z.B. im Positivismusstreit). Dualisten, z.B. Alfred Lorenzer, haben die Physik ausdrücklich "Beobachtungswissenschaft" genannt - und daraus und mit Blick auf nichtbeobachtbare Sachverhalte der Geisteswissenschaften den Dualismus abgeleitet. Diese Begründung des Dualismus war und ist falsch. Warum?

Die moderne Physik (= Relativitätstheorie und Quantenmechanik) wurde in theoretischen Modellen entwickelt, die in wesentlichen Teilen nichtbeobachtbare Sachverhalte enthalten. Das haben gerade ihre prominentesten Vertreter (z.B. Planck, Bohr, Einstein und Heisenberg) an vielen Stellen ausdrücklich betont. Hier nur eine von vielen Aussagen von Planck zur physikalischen Theorie: "Direkt beobachtbare Größen kommen…überhaupt nicht vor… (z.B.) Partialschwingungen, Bezugssysteme usw."

Abgesehen von diesen rein logisch-mathematischen Größen ist sogar ein empirisch gedeutetes Elektron ein gutes Beispiel für die Fragwürdigkeit einer strikt verstandenen Beobachtbarkeitsforderung. Der Grund: Auch ein empirisch, also mit einem Radius größer Null angenommenes Elektron ist prinzipiell nicht beobachtbar. Kein Physiker hat jemals ein Elektron beobachtet. Beobachtbar sind nur Spuren von ihm (z.B. in einer "Nebelkammer"). Niels Bohr hat wegen dieser Nichtbeobachtbarkeit mancher quantenmechanischer Sachverhalte eine Analogie zum Unbewussten der Psychoanalyse hergestellt, das bekanntlich ebenfalls die Eigenschaft der prinzipiellen Nichtbeobachtbarkeit hat. Beobachtbar sind - analog zu den physikalischen Spuren in der Nebelkammer - nur Symptome (z.B. ein angstgetriebenes Verhalten).

Dass Phänomene als interne Zustände des Geistes für Dritte nicht direkt beobachtbar, sondern nur kommunizierbar sind, führt also nicht eo ipso zum Ausschluss aus der Wissenschaft. M.a.W.: Die Beschäftigung mit nichtbeobachtbaren Objekten hat mit Metaphysik und Transzendenz, wie Kommentatoren in polemischer Manier behaupten, nichts zu tun.

Das gilt gleichermaßen für meine Begründung der logischen Autonomie des Geistes (zu unterscheiden von seiner empirischen Abhängigkeit vom physiko-chemischen Gehirn). Ein Beispiel: Die Annahme von der Ausdehnungslosigkeit des mathematischen Punktes, i.e. die Bedeutung von "mathematischer Punkt", kann nicht auf ein ausgedehntes Neuron zurückgeführt werden. Aus dieser Unmöglichkeit, "ausdehnungslos" aus "ausgedehnt" abzuleiten, folgt zwingend die Annahme der logischen Autonomie des Geistes, die auch Planck in klarer Formulierung eingeräumt hat. Es ist eben doch ziemlich komplex!

Bei einigen Kommentatoren vermisse ich die Berücksichtigung dieser Komplexität. An die Stelle von textbezogenen Argumenten treten Polemik, Schmähkritik, Herabsetzung und/oder kaum zu überbietende Arroganz (Drahtlooser: "Der Autor kann nicht denken… unlogisch und teilweise wirr" / Time traveler: "Inkompetenz…belanglose Schlussfolgerungen") / Ockham OS: "Zuviel Transzendenz, zu wenig Wissenschaft..." / Tele-Tommel: "…geht…völlig am Thema vorbei.") Wichtig ist: Es geht mir nicht um Immunisierung gegen Kritik, auch nicht gegen scharfe Kritik - das wäre das Ende jeder Wissenschaft -, sondern um einen respektvollen und zivilisierten Umgang miteinander.

Mit der o.g. anderen Art und unter dem Schutzschirm der Anonymität wird der ohnehin schon und aus unterschiedlichen Gründen beschädigte Ruf des Internets negativ verstärkt. Ich hoffe, dass dieses moderne Medium nicht zur "Kloake" (Ash) verkommt. Vermeidbar ist der Kulturverfall dann und nur dann, wenn die Grundlage der Informationsgesellschaft, das Postulat der guten Begründung, berücksichtigt wird. "Caute!" ist also gefragt, in erläuternde Formulierung übersetzt: Du kannst denken, was Du willst, und sagen, was Du denkst, aber nur nach reiflicher Überlegung.

Prof. em. Dr. Winfried D'Avis forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten (Frankfurt, Klagenfurt, Perugia, Changsha) zu den Themen Logik der Forschung, Cognitive Science und Informationsgesellschaft. 2019 erschien sein Buch "Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften" erschienen.

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