Polen will sich "weder der sozialistischen noch der neoliberalen Doktrin" beugen

Regierungschef Mateusz Morawiecki. Bild: premier.gov.pl/

Der neue Regierungschef Morawieckis will für Polens Sonderweg werben und "Missverständnisse" ausräumen

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Polen ist in der Offensive. Bis zu einem EU-Gipfel im März haben dessen Regierungsvertreter Zeit, bei anderen EU-Mitgliedern um Verständnis für den eigenwilligen politischen Weg Polens zu werben. Denn gegen das Land läuft seit Dezember ein Verfahren der EU-Kommission, eingeleitet aufgrund der abgesegneten umstrittenen Gesetze, die die Gerichtsbarkeit der derzeitigen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) unterwerfen. Im März müssten vier Fünftel der EU-Mitgliedsländer für die weitere Prozedur stimmen, an deren Ende der Stimmentzug stehen kann.

Angesichts dieser Herausforderungen entließ Premierminister Mateusz Morawiecki mit dem Einverständnis des tonangebenden Parteichefs Jaroslaw Kaczynski am Dienstag die umstrittensten Minister. Darunter der Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, einer engsten Verbündeten Kaczynskis (Das Misiewicz-Problem).

Mateusz Morawiecki wird in der nächsten Zeit viel reisen, der Nachbar Litauen ist auf der Agenda, das Wirtschaftsforum Davos. Sein neu gekürter Außenminister Jacek Czaputowicz soll in der kommenden Woche Sofia aufsuchen, auch ein Treffen mit dem deutschen Amtskollegen Sigmar Gabriel in Berlin findet bald statt. Der Regierungschef ist erst seit Anfang Dezember im Amt, um dem Land ein moderneres Ansehen zu verschaffen (Ex-Banker regiert Polen, das sich nach dem Machtantritt der PiS Ende 2015 vom EU-Musterknaben zum EU-Störenfried gewandelt hatte.

Für mehr Gerechtigkeit

Zur Imagekorrektur gehörte auch eine spontane Einladung der ausländischen Journalisten in die Premierminister-Kanzlei. Sollte es Morawieckis Ziel gewesen sein, vor allem moderat aufzutreten, so war dies dem Historiker, Ökonom und Ex-Banker nicht ganz gelungen.

Als von seinem Assistenten erklärt wurde, dass das Gespräch vor allem "on the record" sei, eilten einige Journalisten wie ungezogene Schulkinder an den Tisch des Premiers und legten ihm ihre Aufnahmegeräte neben die Teetasse. Das war schon zu viel der Distanzlosigkeit, Morawiecki schaute sehr irritiert. Der Politiker, drahtige Gestalt, Hornbrille, kräftiger Händedruck, gilt als Kontrollmensch, der sich bis Dezember sowohl das Wirtschafts- wie das Finanzministerministerium aufgeladen hatte.

Doch nun geht es um gutes Wetter und "darum, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen". Diesen Satz wiederholte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki am Mittwoch vor den geladenen Auslandskorrespondenten im Palast des Premierministers mehrfach. Sein offizielles Credo lautet "Dialog statt Monolog". Das Abendessen mit dem Vorsitzenden der EU-Kommission Jean-Claude Juncker und seinem Stellvertreter Frans Timmermans am Dienstag sei ja auch positiv gewesen, wenn es auch in der Sache keinen Durchbruch gab. Polen sei eines der am stärksten von Europa begeisterten Länder der EU, er selbst habe in den Neunziger Jahren an den Vorbereitungen zum EU-Beitritt teilgenommen.

Die politische Mission seiner Regierung liegt jedoch in der Innenpolitik, es müsse für mehr Gerechtigkeit gesorgt werden. Dabei sei er in Polen einer der wenigen, der "beide Seiten" kenne. Er war "Teil des Establishments", unter anderem als Vorstandsvorsitzender der "Bank Zachodni WBK", in den Achtziger Jahren sei er nach eigenen Worten "Freiheitskämpfer" gewesen. Als Jugendlicher wurde er vom Inlandsgeheimdienst SB misshandelt, da sein Vater Kornel die Bewegung "Kämpfende Solidarnosc" leitete. Dies erzählt er diesmal nicht, bei seiner Antrittsrede im Sejm erwähnte er es jedoch.

Diese Erlebnisse prägten ihn noch heute. Die meisten, die Karriere in Polen nach der Wende machten, seien Postkommunisten gewesen, er selbst sei eine Ausnahme und habe darunter gelitten. Von den heute 100 reichsten Polen wären 80 mit dem Geheimdienst verbunden und teils in die Morde an seinen "Waffenbrüdern" verwickelt gewesen. Nicht diskutiert wurde, dass auch heute im PiS-kontrollierten Staat Personen des ehemaligen kommunistischen Geheimdiensts Karriere machen.

Auch ist schwer zu sagen, ob diese Radikalität Teil der Linie der PiS - oder Morawieckis wirklich eigene und persönliche Mission ist. Innerhalb der Partei, in der Wirtschaftspolitik eher sozialdemokratisch orientiert, gilt er aufgrund seiner Bankervergangenheit als Außenseiter.

"Zweifache Maßstäbe" ist sein Lieblingsbegriff

Vor allem die Richter seien Teil dieses Systems gewesen, seine Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) wolle nun darum einiges gerade rücken. Die Gesetze, die es erlauben, leitende Richter von ordentlichen Gerichten, des Kontrollorgans Landesgerichtsrat vollständig zu entlassen und die Richter des Obersten Gerichtsrat teilweise auszutauschen, machten seiner Ansicht nach die Gerichte unabhängiger. Zudem lässt Morawiecki ein Schreiben verteilen, in dem darauf hingewiesen wird, dass sich viele Gesetzesänderungen mit der Rechtsprechung anderer EU-Länder decken, Teile der Vorwürfe der EU-Kommission werden als falsch abgewiesen.

Der Vorwurf, dass Polen schlechter als seine westlichen Nachbarn behandelt wird, findet sich in dem Papier und kam auch in der Diskussion mit den Pressesprechern zur Sprache. "Zweifache Maßstäbe" ist sein Lieblingsbegriff, wenn es um Gerechtigkeit für Polen in der EU geht. Dies wird sicherlich von anderen osteuropäischen EU-Mitgliedern ähnlich gesehen. Auch Bulgarien will den Sanktionen nicht zustimmen.

Offen ließ der Premier, ob die Regierung bereit sei, ihre Justizreform vielleicht doch zu revidieren, oder ob sie sich an ein kommendes Urteil des Europäischen Gerichtshof halten wird. Die EU-Kommission verklagt das Land, da es keine Flüchtlinge aus den Lagern in Italien und Griechenland aufnehmen will, wie 2015 von der konservativ-liberalen Regierung vereinbart. Auch aufgrund der Abholzungen im Bialowieska-Urwald läuft gerade ein Verfahren. Seine Aussage beim Amtsantritt Anfang Dezember, man werde sich an das Urteil des Europäischen Gerichtshof halten, relativierte er somit.

Zu Deutschland scheint Morawiecki ein näheres Verhältnis zu haben. Er forschte und studierte in Frankfurt und Hamburg, in sein Englisch baut er immer wieder Wörter wie etwa "Mittelstand" oder "Bundesverfassungsgericht" ein. In anderen Interviews nahm er auf die deutsche Literatur Bezug. Doch das Verhältnis der meisten PiS-Politiker zum westlichen Nachbarland gilt als weniger freundlich.

Wie freundlich oder unfreundlich wird sich bald entscheiden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Anfang Dezember angekündigt, die Sanktionen zu unterstützen. Außenminister Jacek Czaputowicz soll dies mit seiner Visite am Mittwoch verhindern und erklärte im Vorfeld, es gehe um "das Pflegen der sehr guten Beziehungen" mit dem Nachbarn.

Am 25. Januar will er die Entscheider des Wirtschaftstreffen Davos vom polnischen Weg überzeugen, der sich "weder der sozialistischen noch der neoliberalen Doktrin" beugen will, sondern "die Wirtschaft mit der Gesellschaft" verbinden möchte". Auch dort wird er "Missverständnisse" aus dem Weg räumen müssen.