Politik der Angst

Irak: Anschläge ohne Ende?

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Seit mehr als einer Woche löst eine Meldung über Anschläge im Irak die andere ab. Über 250 Menschen sind, seit Premierminister Dschafari Ende April seine Kabinettsliste vorgeschlagen hat, einer bitteren Serie von Anschlägen zum Opfer gefallen. Während einige US-Militärs die Gewaltorgie der Guerillas überraschend als Indiz für erlahmende Kräfte der Insurgency deuten, suchen viele die Erklärung für die Gewalteskalation in der Frustration der Sunniten.

Gestern sind bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi in Bagdad 17 Menschen - 13 Iraker und vier westliche Ausländer, vermutlich Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma - getötet worden. Am Freitag wurde bekannt, dass ein Arbeiter verscharrte Leichen von 12 Männern, die offensichtlich gefoltert und hingerichtet wurden, im Nordosten Bagdads bei Schaufelarbeiten entdeckt hatte:

Normalerweise finden wir ungefähr zwei oder drei Leichen pro Tag, die auf der Strasse liegen, aber bis jetzt haben wir noch nie eine solche Anzahl, die auf solche Weise begraben wurden, gefunden. Nichts, was zur Zeit passiert, kann mich jetzt noch überraschen.

Die Ernennung der ersten selbst gewählten Regierung sollte eigentlich ein Wendepunkt sein; zumindest die US-Regierung erwartete sich ein Abebben der Gewalt nach dieser historischen Marke. Stattdessen sieht es derzeit ganz danach aus, als ob ein Ende der Anschläge überhaupt nicht abzusehen ist. Selbst wenn sich die Dschihadis um Sarkawi für viele Anschläge verantwortlich zeichnen, sie sind nicht die einzigen, die den "neuen Irak" mit ihrer Politik der Angst sabotieren wollen. Der Konflikt zwischen Sunniten und den schiitischen und kurdischen Bevölkerungsschichten ist durch die Wahl nicht, wie man es sich in amerikanischen Regierungskreisen noch im letzten Jahr versprach, eingedämmt worden – im Gegenteil. Was schon vor der großen Offensive auf Falludscha im November letzten Jahres (von der man sich eine militärische Wende im Kampf gegen den Widerstand erwartete) zu befürchten war (vgl. Die Niederlage von Falludscha), bestätigt sich jetzt: das "Problem" mit der sunnitischen Minderheit, deren politische Vertreter Jahrzehnte lang an den wichtigsten Schalthebeln saßen: die Schwierigkeit, die Sunniten in den politischen Prozess einzubinden, bzw. die beständige bürgerkriegsähnliche Situation im Land bei Nichtgelingen dieser Integration.

Nur 185 Parlamentarier von insgesamt 274 waren bei der Abstimmung über die neue Kabinettsliste letzte Woche anwesend. Wichtige Vertreter der Sunniten fehlten, ebenso bei den anschließenden Feierlichkeiten. Man dokumentierte somit deutlich die Enttäuschung darüber, dass Dschafari aus Sicht der Sunniten zu wenig Entgegenkommen gezeigt hatte: weniger Ministerien als erwartet und keine Berücksichtigung der Wunschkandidaten etwa für das Prestige trächtige Verteidigungsministerium. Zwar soll dem so schnell wie möglich abgeholfen werden, - man habe einen geeigneten Minister gefunden, gab der Sprecher von Vizepräsident al-Jawer am Freitagabend bekannt -, sollte aber auch der neue Favorit, Sadun ad-Dulaimi, Vertreter eines mächtigen Stammes in der Anbar-Provinz, von den Schiiten und Kurden nicht angenommen werden, wäre dies ein neuer Rückschlag.

All zu viele davon kann sich die neue Regierung wohl nicht mehr leisten. Nicht nur in amerikanischen Medien ist von wachsender Frustration innerhalb der Bevölkerung die Rede, verfolgt man die "irakische Presseschau" des "Institute for War and Peace Reporting" ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Man wartet darauf, dass die Regierung sich endlich für mehr Sicherheit und Durchsetzung von Recht und Ordnung einsetzt - an manchen Orten werden Friseure getötet, weil die keinen islamischen Haarschnitt schneiden; irakische Ärzte dürfen nach einer neuen Order jetzt Pistolen oder Gewehre haben, nachdem mehr als 130 von ihnen entführt oder getötet wurden. Für weiteres Hinhalten aus personaltechnischen Gründen dürfte die irakische Bevölkerung nicht mehr lange Verständnis haben.

Optimistisch blicken die Vertreter des amerikanischen Militärs in die nächste irakische Zukunft. Trotz der aktuellen Anschlagwelle habe man "enorme Fortschritte" im Kampf gegen die "Aufständischen" gemacht, so das etwas ungewöhnliche Statement angesichts der letzten Anschläge: Die Terroristen würden mit der Aufmerksamkeit heischenden Anschlagsserie vor allem versuchen, ihre strategischen Verluste zu kompensieren, hieß es. Gemeint sind mit den "strategischen Verlusten" 20 ranghohe Vertraute von as-Sarkawi, die man in den letzten Wochen festnehmen oder töten konnte. Das Problem mit dem irakischen "Widerstand" ist aber, dass man sich noch immer nicht völlig klar über seine genaue Zusammensetzung und Stärke ist und vor allem nicht, wie seine verschiedenen Ausformungen mit der irakischen Bevölkerung verbunden sind. Ziemlich sicher ist aber, dass Sarkawis Dschihadi-Verbände nur einen Zweig dessen stellen, was man seit geraumer Zeit pauschal unter "Widerstand/Insurgency" auf einen Begriff bringt. Das Ende von Sarkawis Killergang wäre sicher ein großer Schritt Richtung Sicherheit im Irak, die "sunnitische Frage" wäre damit aber noch nicht gelöst.