Pornographie und Code

Netzliteraturpreis geht an Berliner Künstler und Wissenschaftler - Von der Lautpoesie zum Game-Hack

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Den mit 2000 Euro dotierten "1. Junggesellenpreis für Netzliteratur" erhielt der Berliner Netzkünstler und Literaturwissenschaftler Florian Cramer für seine Online-Installation plaintext.cc, die unter anderem Sourcecode, seine Maildialoge mit der Künstlerin Mez und Zitate aus pornographischen Texten von Georges Bataille mischt. Die Verleihung fand zum Abschluss des dreitägigen Festivals für Netzliteratur "Literatur und Strom" am Literaturhaus Stuttgart statt.

Neben Cramer wurden auch der Zürcher Künstler und Wissenschaftler René Bauer für seine Schreibumgebung nic-las, der Berliner Netzautor Dirk Schröder für seinen Lyrikgenerator macelib (das Projekt wurde am Verleihungstag konzeptgemäß vom Autor gelöscht.) und der Berliner Netzautor, Musiker und Slampoet Frank Klötgen für Endlose Liebe - Endless Love, ein Online-Musical.

Im Umfeld der Preisverleihung fanden sich unter dem Motto „Literatur und Strom“ Wissenschaftler, Lautpoeten, Onlineliteraten und Netzkünstler zusammen, um neuere Arbeiten vorzustellen und zu diskutieren. Anhand des Dreischritts „Code – Interface – Concept“ wurde sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart der schreibenden Kunst im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung thematisiert.

Preisträger Florian Cramer aus Berlin: "Der Algorithmus von plantext.cc ist ein Geheimnis, aber soviel sei verraten: die Links führen alle auf die Hauptseite mit dem Skript." Und weil er selbst Netzliteratur (und seit neuestem Pornographie) literaturwissenschaftlich analysiert: "Das ist peinlich. Eigentlich sollte ich hier gar nicht stehen – aber ich freue mich, dass das Programm den Preis gewonnen hat."

Florian Cramer selbst hielt den Eröffnungsvortrag und zeigte wie, als Gegenkonzept zu interaktiver elektronischer Kunst, computer-code-artige literarische Texte entstanden, die das Verhältnis Mensch-Computer jenseits virtueller Scheinwelten erforschen. Anhand der Arbeiten des anwesenden Künstlerduos JODI demonstrierte Cramer, wie hier Computercode, der eigentlich anderen Zwecken dient, wie dem Erstellen eines Spielprogramms, für das künstlerische Spiel adaptiert und die Spiele gleichsam „gegen den Strich gespielt“ werden. JODI selbst zeigten Videos, die dadurch entstanden, dass per Cheat veränderte Computerspiele zur Inszenierung von Bildschirm-Happenings benutzt wurden, „missbrauchten“ zwei skriptgesteuerte Mac-Desktops zum chaotischen und rhythmischen Live-Arrangement von Desktop-Elementen und zeigten, wie man E-Mail-Spam immerhin noch für Kunstinstallationen etwas abgewinnen kann.

Literarische Weblogs als arrangierte Wirklichkeit

Wie ein literarisches Web-Logbuch als „arrangierte Wirklichkeit“ selbst zum Roman wird und der dort agierende Autor zur Romanfigur, zeigte der Berliner Autor Alban Nikolai Herbst anhand seines Weblogs „Die Dschungel. Anderswelt.“, das zum Untersuchungsobjekt von „Form und vor allem Inhalt als dynamischem Prozess“ wird und in Herbsts aktuell in Arbeit befindlichem Roman Stuttgart digitalisiert und samt seiner Bewohner unter Vernichtung der Originale sowie ohne, dass jene es bemerken, in den Anderswelt-Zentralcomputer eingespeist wird, wurde dabei in den Vortrag mit eingebaut, indem Herbst erzählte, was parallel zum Vortrags an anderer Stelle in der Stadt in der Romanhandlung passiert.

Alban Nikolai Herbst aus Berlin zeigt in Stuttgart Fotos aus Stuttgart in seinem Blog, die als Material in seinen phantastischen Roman über Stuttgart einfließen werden.

Dass und wie experimentelle Literatur zwischen digitaler und konkreter Ausprägung auf dem Computerbildschirm und im Radio gleichermaßen funktioniert, das wurde im Vortrag des Kurators des Netzliteraturfestivals und Stuttgarter Künstlers Johannes Auer offensichtlich. Ausgehend von Werken des im letzen Jahr verstorbenen Stuttgarter Autors Reinhard Döhl, die in den letzen Jahren im Internet umgesetzt worden waren, erarbeitet Auer zusammen mit Netzkünstlern Radio-Performances, die in einer Reihe des österreichischen Kunstradios ausgestrahlt wurden.

Friedrich W. Block, Netzliteratur-Wissenschaftler aus Kassel gab einen Überblick über das Verhältnis von digitaler und visueller Poesie und ihr Verhältnis zur Lautpoesie seit Dada und Futurismus. Als Verbindungsglied wirkt auch hier der Code, das geschaffenen Zeichensystem, sei es in grafischen Partituren von Ernst Jandl oder selbsterfunden Schreibsystemen zur Notierung von Lauten und Betonungen, wie sie der „skribentische“ Lautpoet Valeri Scherstjanoi aus Berlin in dadaistisch-futuristischer Tradition auch auf die Bühne des Literaturhauses brachte. Scherstjanoi hat inzwischen einen Fundus aus über 3000 Schreib-Zeichen entwickelt, in denen er seine Lautgedichte notiert und die ausschließlich für ihn lesbar sind. Dabei entstehen auch Schreib-Karten, die er lesend in beliebiger Richtung durchwandert, so dass aus ein und demselben „skribentischen Manuskript“ endlos viele Lautgedicht-Vorträge entstehen können.

Kooperatives Texten scheitert an akademischen Zwängen

Wie kooperative Schreibumgebungen im Internet funktionieren, bei denen viele Benutzer auf Texte nicht nur zugreifen sondern jene auch ergänzen und verändern können, und welche Probleme sich bei Enzyklopädie-Projekten ähnlich der Wikipedia bei ihrem Zusammenstoß mit der akademischen Welt des „publiziere oder stirb“ ergeben, berichteten die Literaturwissenschaftler Beat Suter und Rene Bauer aus Zürich.

Die Kunstwissenschaftler Hans Dieter Huber und Beat Wyss zeigten digitale Kunstwerke aus der Tanzclub-Szene und stellten systemtheoretische Überlegungen zu deren Bildformen und Bildprozessen an.

Thomas Dreher aus München stellte Zusammenhänge zwischen den „programmatischen“ Handlungsanweisungen der Konzeptkunst der 60er und 70er Jahre und dem algorithmischen Computercode von elektronischen Kunstwerken her – mit dem Unterschied, dass das Ziel eines herkömmlichen Programms definiert, das eines elektronischen Kunstwerks aber offen sei.

Dass die Texte der Konzeptkunst paradoxe und literarische Züge haben, zeigte Thomas Dreher aus München: "to perform this piece/do not perform it/this piece is its name" (Tony Conrad)

Cornelia Sollfrank aus Hamburg schließlich stellte ihre Arbeiten zu „Social Hacking und Cyberfeminismus“ vor: Mal erfindet sie 300 Netzkünstlerinnen und überschwemmt damit einen Computerkunstwettbewerb der Kunsthalle Hamburg, mal „vergisst“ sie absichtlich frauentypische Gegenstände wie eine Lara-Croft-Handtasche und ein Eisprungsbestimmungsgerät auf CCC-Hackertagungen, damit die Bilder dann auf den Fundsachen-Webseite auftauchen, mal erfindet sie eine Hackerin und dreht über sie gleich eine Videodokumentation, die selbst die männlichen CCC-Hacker täuscht, mal operiert sie absichtlich in der urheberrechtlichen Grauzone und verarbeitet elektronisch Bilder von Andy Warhol zu eignen Werken. Und das durchaus mit dem Ziel den Autorenbegriff in der Kunst – den ihr Vorbild Warhol selbst in der „Factory“ praktisch demontierte – in Frage zu stellen.

Die Avantgarde lebt – in den Drähten

Die Stuttgarter Unternehmung hat gezeigt, dass die Avantgarde weder tot noch zu Ende diskutiert ist und dass gerade aktuelle technischen Möglichkeiten wie sie im Internet gegeben sind, experimentellem Arbeiten mit Text, Code und Bild neue Impulse geben und dass gerade in der Auseinandersetzung mit unserem digitalen und vernetzen Alltag die Kunst eine wichtige Rolle einnehmen kann, neue Perspektiven zu zeigen und alte Fragen neu zu stellen.

Der Autor eines literaischen Weblogs werde von Weblog-Lesern, die ihn besuchen, als lebende Romanfigur empfunden, berichtete der Berliner Autor Alban Nikolai Herbst, der unter http://albannikolaiherbst.twoday.net ein literarisches Blog betreibt.

Bilder und weiterführende Links zur Veranstaltung finden sich im Literaturwelt-Blog